"Die Politik hat es gelöst". Jean-Claude Juncker au sujet de la crise financière internationale

Rheinischer Merkur: Wie geht’s dem Vorsitzenden der Euro-Gruppe? Kommen Sie noch zum Schlafen?

Jean-Claude Juncker: Ich bin strukturell müde.

Rheinischer Merkur: Können Sie in dieser Zeit noch etwas zur Verteidigung des Kapitalismus beitragen?

Jean-Claude Juncker: Höchstens, dass der Kapitalismus sich mit seinen eigenen Instrumenten zerlegt, dass er das Prinzip "Eigentum verpflichtet" verletzt hat und nun aus den Fugen geraten ist.

Rheinischer Merkur: Hat die gesamte Bankenzunft versagt?

Jean-Claude Juncker: Ich will keine pauschalen Urteile fällen. Aber mich stört sehr, dass viele, die den Finanzkarren an die Wand gesetzt haben, vorher das Primat der Politik infrage stellten und sich dadurch auszeichneten, dass sie den Regierungen dieser Welt erklärten, wie Länder, Kontinente und das Weltgefüge zu regieren seien. Sie waren ganz emsig, wenn es darum ging, einer Deregulierung und Entstaatlichung der Finanzsysteme das Wort zu reden. Sie haben eifrig für den schlanken Staat plädiert. Und jetzt sind sie plötzlich so staatsbegeistert, dass sie nicht genug kriegen können.

Rheinischer Merkur: Da es keine anderen Banker gibt, müssen dieselben Leute den Karren aus dem Dreck ziehen, die ihn hineingefahren haben.

Jean-Claude Juncker: Ich bin nicht der Meinung, dass man weltweit die Führungsetagen der Banken säubern muss. Ich fordere aber, dass sich nach der Krise alle daran erinnern, wer sie gelöst hat. Das waren Politiker und nicht Banker.

Rheinischer Merkur: Haben Sie daran Zweifel?

Jean-Claude Juncker: Ich bin mir sicher: Wenn wir die Finanzmarktkrise fünf oder höchstens zehn Jahre hinter uns gelassen haben, werden dieselben Leute, die jetzt händeringend nach dem Staat rufen, wieder ihre Artikel aufsetzen, in denen sie den Rückzug der Politik fordern.

Rheinischer Merkur: Die Börsen haben sich erholt. Ist das der Anfang vom Ende der Krise?

Jean-Claude Juncker: Sinn und Zweck aller Beratungen zwischen den europäischen Finanzministern, der Euro-Gruppe und den G-7-Vertretern war einzig, das Vertrauen der Finanzmärkte und der Anleger zurückzugewinnen. Dies ist offensichtlich gelungen. Jetzt muss Sorge dafür getragen werden, dass sich dieses Vertrauen auch auf Dauer an den Märkten einnistet.

Rheinischer Merkur: In Deutschland gab es Probleme vor allem bei staatlichen Banken. Wo soll plötzlich die Expertise herkommen, wenn der Staat sich noch stärker in den Bankenmarkt einmischt?

Jean-Claude Juncker: Da wird jede Regierung sehr sorgfältig sortieren müssen. Wir haben zum Beispiel in Luxemburg Kapitalbeteiligung an den beiden Banken Dexia und Fortis übernommen. Wir werden aber nicht in die Geschäftsführung eingreifen. Ich kann nur raten: Wenn Politiker im Aufsichtsrat sitzen und das Management bestellen, müssen sie auch dafür sorgen, dass diese Banken besser abschneiden als andere.

Rheinischer Merkur: Müssen die Staaten das Geld, das sie ins Finanzsystem einleiten, zusätzlich schöpfen?

Jean-Claude Juncker: Das muss uns am Ende nicht drohen. Wenn Staaten Anteile an Banken übernehmen, sind diese Ausgaben zwar aus dem Haushalt planmäßig zu gestalten. Ich kann mir aber durchaus vorstellen, dass man am langen Ende sogar gewinnt. Die eingesetzten Instrumente wie die Bürgschaften sind in der Regel so gewählt, dass sie keine Auswirkungen auf den Haushalt haben und auch den Steuerzahler nicht belasten müssen.

Rheinischer Merkur: Müssen wir uns also nicht auf stark steigende Inflation einstellen?

Jean-Claude Juncker: Generell gehe ich davon aus, dass die Haushaltspolitiker sparsam bleiben und nicht auf expandierende Finanzpolitik setzen. Ich bin allerdings auch dagegen, dass sich die öffentlichen Haushalte in der Krise kaputtsparen müssen. Jetzt ist die Stunde des gesunden Mixes aus volkswirtschaftlicher Verantwortung und haushaltspolitischer Vernunft.

Rheinischer Merkur: Die Krise ist vor einem Monat durch die Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers nach Europa geschwappt. Warum hat es so lange gedauert, bis ein Rettungspaket geschnürt wurde?

Jean-Claude Juncker: Die Amerikaner haben eine systemrelevante Bank in den Konkurs verabschiedet. Es hat einige Zeit gedauert, bis wir uns voll umfänglich ein Bild von den Auswirkungen machen konnten. Aber ehrlich gesagt: Ein Monat ist höchstens für den publizistischen Betrachter ein langer Zeitraum.

Rheinischer Merkur: Als Vorsitzender der Euro-Gruppe brauchen Sie die Unterstützung von 15 Regierungen. Ist das Management der Euro-Zone krisentauglich?

Jean-Claude Juncker: Wenn man es in kurzer Zeit schafft, alle 15 Länder der Euro-Zone und die 27 EU-Länder insgesamt auf einen gemeinsamen Kurs zu bringen, zeigt das doch, dass die europäische Regierungsform effizienter ist, als Kritiker behaupten.

Rheinischer Merkur: Lange Zeit haben Regierungen Europas an eigenen Rettungspaketen gebastelt. Ist es nicht Zeit für eine gemeinsame Finanzpolitik, einen gemeinsamen Einlagensicherungsfonds und eine gemeinsame Bankenaufsicht?

Jean-Claude Juncker: Nein, gemeinsame Herangehensweise und gemeinsame Regeln in der Europäischen Union sind wichtiger als die institutionelle Architektur, innerhalb derer zum Beispiel Banken beaufsichtigt werden. Dennoch gebe ich zu: Obwohl die Institutionen nach Lage der Dinge gut funktioniert haben, zeigt mir diese Krise, dass es durchaus sinnvoll ist, die Institutionen neu aufzustellen.

Rheinischer Merkur:: Hätte der europäische Reformvertrag, der sich noch in Abstimmung befindet, in Kenntnis dieser Krise andere Inhalte?

Jean-Claude Juncker: Ich glaube nicht, dass man etwas anderes in den Reformvertrag hineingeschrieben hätte. Vielleicht wären einige Bereiche der Politik etwas griffiger formuliert worden. Mir geht es bei der institutionellen Neuaufstellung um etwas anderes: Mit dem Reformvertrag wäre eine angemessene Reaktion auf die Krise leichter gefallen.

Denn stellen Sie sich einmal vor, es wären nicht die Franzosen in der Ratspräsidentschaft gewesen, sondern ein Land, das am Finanzsystem weniger interessiert ist. Dann hätte es wahrscheinlich eine völlig andere politische Therapie gegeben und wir hätten wohl nicht so schnell reagiert, wie es nun innerhalb der Euro-Gruppe geschehen ist. Der Reformvertrag institutionalisiert die Euro-Gruppe und er legt einen ständigen Vorsitz des Europäischen Rates fest. Damit wäre für die Zukunft gesichert, dass die Europäische Union schnell handeln kann.

Rheinischer Merkur: Im Moment erleben wir ein Europa der zwei Geschwindigkeiten. Rennt die Euro-Gruppe den anderen EU-Staaten davon?

Jean-Claude Juncker: Die Euro-Gruppe hat Gas gegeben, weil sie Gas geben musste. Die anderen Staaten der EU haben Mühe, im selben Tempo zu reagieren. Das wird in einigen Ländern eine Debatte über die Einführung des Euro auslösen. Der britische Premierminister musste sich händeringend Zugang zu dem Raum verschaffen, in dem die Euro-Gruppe tagte. Und sofort nach seinem Vortrag musste er den Raum wieder verlassen. Das wird auf Dauer in Großbritannien den Eindruck vermitteln, dass es zielführender ist, im Euro-Raum zu sitzen, als an die Euro-Tür klopfen zu müssen. Von britischer Seite wird zwar der Eindruck geschürt, man hätte bei der Lösung in der Führungskabine gesessen. In Wirklichkeit hat man sich Zugang zum europäischen Maschinenraum erbettelt.

Rheinischer Merkur: Das bedeutet: Erstens braucht Europa den Reformvertrag …

Jean-Claude Juncker: Ja, und zwar möglichst schnell.

Rheinischer Merkur: … und zweitens muss Großbritannien den Euro einführen?

Jean-Claude Juncker: Es wäre vermessen, Großbritannien öffentliche Ratschläge zu erteilen. Aber für den Regierungschef eines großen Landes kann es nicht angenehm sein, sich zu einer Sitzung selbst einzuladen und die Sitzung in dem Moment verlassen zu müssen, wo diejenigen, die sich die europäische Währung teilen, zu den Entscheidungen übergehen. Ich bin mir sicher: Wenn sich die Wogen geglättet haben, werden die Briten darüber nachdenken, ob sie nicht künftig gleichberechtigt in alle Gremien eingebunden sein sollten.

Rheinischer Merkur: Die Krise ist keine europäische, sondern eine globale. Wie kann man Länder wie Russland oder China einbeziehen?

Jean-Claude Juncker: Das Weltfinanzsystem wird man nicht neu aufstellen können, ohne auch Russland, China, Indien und andere als gleichberechtigte Partner ins Boot zu holen. Wir müssen deshalb schon bald einen erweiterten G-7-Gipfel zum Thema "Neues Weltfinanzsystem" veranstalten. Das ist umso wichtiger, weil wir als eurozentrische Gestalter in den letzten Wochen kaum ein Wort übrig hatten für die Probleme des armen Teils der Welt. Die armen Länder leiden unter den langfristigen Auswirkungen dieser Krise unendlich mehr als wir in Europa oder den USA. Ich wünsche mir sehr, dass wir uns darauf besinnen, dass die Welt uns nicht allein gehört.

Membre du gouvernement

JUNCKER Jean-Claude

Date de l'événement

15.10.2008

Type(s)

gouv:tags_type_event/interview