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"Sich selbst und seinen Nachbarn verpflichtet", Jean-Claude Juncker au sujet des 60 ans de la République fédérale d'Allemagne
Hortense Bentz: Heute jährt sich zum 60. Mal der Tag, an dem das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verkündet wurde. Von 1949, das waren vier Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und des NS-Reiches, bis heute ist es ein langer Weg. Wie beurteilen Sie die Entwicklung von 60 Jahren Demokratie in der Bundesrepublik?
Jean-Claude Juncker: Unabhängig von vereinzelten Irritationen, die es derzeit im deutschluxemburgischen Verhältnis gibt, die aber die Beziehungen zwischen beiden Ländern nicht grundsätzlich belasten, ist es so, dass die Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik und das Hinwenden dieses Deutschlands, das wir zwischen 1933 und 1945 negativ kennengelernt haben, zu einer regelrechten Bürgerdemokratie als Resultat hat, dass Deutschland, trotz dieser Irritationen noch nie ein solch guter Nachbar war, wie dies zur Zeit der Fall ist. Es ist - und dies wurde vom deutschen Grundgesetz herbeigeführt und von den Verfassungsvätern auch so gewünscht - zu einem graduellen Heranwachsen eines deutschen Nationenverständnisses gekommen, das ganz deutlich darauf ausgerichtet ist, mit seinen Nachbarn in Frieden und Freundschaft zu leben. Das Grundgesetz ist ein grundlegender Wechsel im Verständnis Deutschlands von seiner Rolle in der Welt und in Europa.
Hortense Bentz: Welches ist für Sie die größte Leistung dieses Grundgesetzes?
Jean-Claude Juncker: Was mich am Grundgesetz immer begeistert hat, ist sein erster Satz: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Das ist eine europäische Notwendigkeit in einen deutschen Satz gekleidet, der das Land 60 Jahre lang sich selbst und seinen Nachbarn gegenüber verpflichtet hat. Die größte Leistung des Verfassungsgebers ist es, dass das kontinentale Elementarprinzip, welches zugleich ein interkontinentales ist, in den Rang eines Verfassungsprinzips gehoben worden ist. Wir wissen aus historischer Erfahrung, dass das Eis der Zivilisation dünn ist. Dieses Prinzip der Würde des Menschen aber, das in so vielen gesetzgeberischen Entscheidungen des deutschen Parlamentes und in so vielen Rechtsprechungselementen des deutschen Verfassungsgerichts zementiert wurde, hat dieses Eis dicker gemacht. Und dass der Anstoß dazu aus Deutschland gekommen ist, ist ein deutscher Fortschritt, der gleichzeitig ein europäischer ist.
Ein wichtiger Punkt ist auch, dass aus dem Grundgesetz von 1949 die Sozialstaatlichkeit erkennbar wird. Die deutsche Verfassung schreibt keine Wirtschaftsordnung vor, aber der Ton, die Atmosphäre der deutschen Verfassung tendiert ganz deutlich in Richtung soziale Marktwirtschaft. Nicht zuletzt wegen des Satzes, dass Eigentum verpflichtet, was eine direkte Entnahme aus der katholischen Soziallehre ist.
Hortense Bentz: Welche Personen haben Ihrer Meinung nach die Anfangsphase der Bundesrepublik am meisten geprägt?
Jean-Claude Juncker: Konrad Adenauer, Carlo Schmid, ein Mann der SPD, dem meine Hochachtung gilt, obwohl oder gerade, weil er lange zwischen einem planwirtschaftlichen und einem resolut markwirtschaftlichen Zuschnitt der Verfassung gezögert hat, Kurt Schumacher, eine große Persönlichkeit der deutschen Sozialdemokratie, Theodor Heuss, der liberale Leuchtturm im Nachkriegsdeutschland. Und dann finde ich, dass für die Gesamtendbefindlichkeit der Bundesrepublik Deutschland das Bundesverfassungsgericht eine große Rolle gespielt hat, und zwar weil es eine kluge zeitgemäße Interpretation - pragmatisch, aber dennoch gefestigt - des Verfassungsbuchstabens gegeben hat. Eine Verfassung ohne einen Verfassungsrichter, der für die Interpretation zuständig ist, ist nur eine halb lebendige, eine rigide Verfassung. Verfassungsrechtliche Freiheiten und Perspektiven werden nur dann zu einer richtigen Bürgerverfassung, wenn ein Richter über die Anwendung in letzter Instanz wacht.
Hortense Bentz: Wie sehen die Deutschen selbst heute ihre Verfassung?
Jean-Claude Juncker: Dass nach der nationalsozialistischen Zeit ein rechtsnormierendes Basisgrundgesetz bestimmend war für jegliche andere Rechtsfassung im bundesrepublikanischen Raum, ist eigentlich ein kleines Wunder: dass jemand, der sich eigentlich nicht selbst von der Diktatur befreit hat, sondern von den Alliierten befreit worden ist, aus einem jedes Recht negierenden Staatswesen heraus- und die Kraft gefunden hat, sein weiteres staatliches Gedeihen unter die Oberhoheit der Rechtsnorm zu stellen, inbegriffen die essentiellen bürgerlichen Freiheiten. Das ist wohl das Erbe der Alliierten, vornehmlich von Amerikanern, Franzosen und Engländern, aber dass dieses Grundgesetz zu einer regelrechten Bürgercharta gemacht wurde, bleibt im Licht von kurzfristigen historischen Entwicklungen ein außergewöhnlicher demokratischer, und - wenn auch verspätet -Reife zeigender Gesamtprozess. Heute kennen viele Deutsche den Text ihrer Verfassung. Es gibt eine gefühlte Grundübereinstimmung zwischen den deutschen Staatsbürgern und ihrer Verfassung, die beeindruckend ist.
Hortense Bentz: Welche Rolle hat die EU im Integrationsprozess der Bundesrepublik gespielt?
Jean-Claude Juncker: Am Ursprung des europäischen Integrationsprozesses steht die Klugheit der damals Regierenden in Deutschland und Frankreich, einen endgültigen und unumkehrbaren Schulterschluss zwischen Deutschland und Frankreich zu vollziehen. Nichts wäre in Europa möglich gewesen ohne die Vernunft der Deutschen und Franzosen, die nach dem Krieg regiert haben. Nichts wäre möglich gewesen, wäre diese Vernunft nicht in hohem Maße geteilt worden von jenen Deutschen und Franzosen, die gegeneinander Krieg geführt hatten. Dies trifft im Übrigen auf alle sechs Gründungsmitglieder der Europäischen Union zu. Es sind die Menschen, die aus den Konzentrationslagern und von der Front kamen, die aus dem Nachkriegssatz "Nie wieder Krieg" ein politisches Programm gemacht haben, das Eingang gefunden hat in die europäischen Gründungsverträge. Und dieses Programm ist bis heute lebendig geblieben, auch wenn die heutigen Generationen das ursprüngliche Anti-Kriegs-Feuer nicht mehr haben, das jene bewegt hat, die die europäische Union wirklich wollten.
Hortense Bentz: Welcher Herausforderung innerhalb der EU muss Deutschland sich in Zukunft ganz besonders stellen?
Jean-Claude Juncker: Deutschland braucht einen - bescheidenen - Führungswillen, den es mit anderen teilen muss, mit seinen direkten Nachbarn als allererstes und auch mit dem restlichen Kontinent. Ohne deutsch-französischen Führungswillen, ohne französischen Führungswillen, ohne deutschen Führungswillen das sind wohlgemerkt drei verschiedene Willenspakete - geht es nicht, aber dies muss in Einklang gebracht werden mit den Träumen, den Wünschen, den Vorstellungen und den Horizonten der anderen.