"Wir wollen die Modellregion Europas sein". Jean-Claude Juncker au sujet du Sommet de la Grande Région

Christophe Langenbrink: Herr Premierminister, angesichts der derzeitigen Wirtschafts- und Finanzkrise erkennt man in und um Luxemburg eine neue Zuneigung zur Großregion. Ist die grenzüberschreitende Kooperation jetzt wichtiger geworden?

Jean-Claude Juncker: Ob es sich um eine "Zuneigung" handelt, kann ich nicht beurteilen. Aber eine "Zuwendung", ja, die findet vermehrt statt. Die ist allmählich herangewachsen. Das hat einerseits mit den Fortschritten im europäischen Vereinigungsprozess zu tun. Der Binnenmarkt, das Schengener Abkommen, die gemeinsame Währung haben die Menschen näher zusammengeführt. Es hat aber auch mit den stark angestiegenen Beschäftigungsmöglichkeiten der vergangenen Jahre in Luxemburg zu tun. Was die Krise betrifft: Die Ursprünge der politischen Zusammenarbeit reichen interessanterweise auf die 70er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurück, die ebenfalls gekennzeichnet waren durch bedeutende wirtschaftliche Probleme. Die Stahlkrise hatte damals Wallonien, Lothringen, das Saarland und natürlich auch Luxemburg stark getroffen. Die jetzige internationale Wirtschaftskrise hat große Auswirkungen auf jene Branchen, die direkt von den Weltmärkten abhängig sind, insbesondere die Automobil-, Stahl- und Chemieindustrie sowie der Finanzsektor. Es handelt sich dabei um Branchen, die in der Großregion von wesentlicher Bedeutung sind. Den Menschen ist bewusst, dass sie alle von der Krise betroffen und aufeinander angewiesen sind.

Christophe Langenbrink: Wie wichtig ist denn tatsächlich die grenzüberschreitende Zusammenarbeit für Luxemburg und welchen Stellenwert hat der grenzüberschreitende Arbeiter?

Jean-Claude Juncker: Die Großregion hat sich zu einem grenzüberschreitenden Arbeitsmarkt entwickelt. Im Jahr 2008 gab es 196.000 Grenzgänger in unserer europäischen Kernregion. Es ist die höchste Dichte in der Europäischen Union. Die Zahl der Grenzgänger, die in Luxemburg einer Beschäftigung nachgehen, beläuft sich zurzeit auf etwa 140.000 Menschen, das sind 51 Prozent der Arbeitnehmer im Privatsektor. Wenn sich diese Entwicklung längerfristig fortsetzen sollte, könnte in wenigen Jahrzehnten die Zahl der Grenzgänger diejenige der ansässigen Arbeitskräfte übersteigen. Im Jahr 2007 haben die Grenzgänger eine Milliarde 220 Millionen Euro in Luxemburg konsumiert, das macht etwa 9.000 Euro für jeden Einzelnen aus. Ihre Steuer- und Sozialabgaben haben die 1,5 Milliarde Euro mittlerweile überschritten. Diese Zahlen sprechen für sich.

Christophe Langenbrink: Nach wie vor ist Zusammenarbeit über die Landesgrenzen hinweg vom Konkurrenzdenken geprägt. Luxemburg sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, alles an sich zu ziehen. Was kann das Großherzogtum tun, um sein Image zu verbessern?

Jean-Claude Juncker: Die Ausstrahlung des Wirtschafts- und Finanzstandortes Luxemburg ist internationaler, ja, globaler Natur. Sie ist nicht auf unsere Nachbarregionen beschränkt. Luxemburg hat sich zum wirtschaftlichen Motor in der Großregion entwickelt sowie zum wichtigsten Beschäftigungspol. Durch seine Rolle als Nationalstaat nimmt es eine politische Schlüsselstellung ein. Das Arbeitsplatzangebot in Luxemburg erlaubt unseren Nachbarregionen, ihre Arbeitslosenzahlen abzufedern. Im Raum Longwy, wo viele Bewohner einer beruflichen Tätigkeit in Luxemburg nachgehen, sind zum ersten Mal seit 40 Jahren die Bevölkerungszahlen wieder angestiegen. Es entstehen Einkaufs- und Freizeitzentren, von denen auch viele Einwohner aus Luxemburg Gebrauch machen. Eigentlich profitiert jeder von jedem. Die luxemburgische Regierung hat jedenfalls nie die Absicht gehabt, "alles an sich zu ziehen". So unterstützen wir nachdrücklich die Schaffung einer Taskforce für Grenzgänger, die von der saarländischen Landesregierung in Saarbrücken angesiedelt werden könnte. Auch erinnere ich an die Gründung der Europäischen Rechtsakademie, die 1992 ihren Sitz nicht in Luxemburg, sondern in Trier gefunden hat. Die luxemburgische Regierung hat bei ihrer Stellungnahme zum Grünbuch der territorialen Kohäsion der Europäischen Kommission im Februar 2009 die regionalen Partner miteinbezogen. Unsere Unternehmen nehmen gemeinsam an internationalen Wirtschaftsmessen und Delegationsreisen teil. Diese wenigen Beispiele belegen, dass unsere Zusammenarbeit im Interesse aller Beteiligten ist.

Christophe Langenbrink: Ihre Regierung hat konkrete Überlegungen angestellt, dem Gipfel der Großregion einen Etat zu verleihen bzw. einen "EVTZ" zu gründen, den auch die anderen Teilregionen mittragen sollten. Wie realistisch ist diese Vorstellung?

Jean-Claude Juncker: Ich möchte zuerst einmal auf den Erfolg des europäischen Interreg-Programms IV A Großregion verweisen. Die 61 genehmigten Projekte fördern maßgeblich und konkret die grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Interesse unserer Bürger. Schwerpunkte dabei sind die Bereiche "Wirtschaft", "Raum", "Menschen". Die Bildung eines "Europäischen Verbundes der Territorialen Zusammenarbeit" (EVTZ) wird es uns ermöglichen, über einen eigenen Haushalt zu verfügen. Der EVTZ ist eine bedeutende Bereicherung für unsere Zusammenarbeit. Europäische Projektgelder können aufgrund der eigenen Rechtspersönlichkeit einfacher zugestellt und kontrolliert werden. Der Gipfel wird über die Gründung eines solchen EVTZ eine Entscheidung treffen.

Christophe Langenbrink: Ist der Beschluss, eine EVTZ-Großregion zu gründen, nicht auch ein deutliches Zeichen, dass die Großregion erwachsen geworden ist?

Jean-Claude Juncker: Das ist sicherlich ein Zeichen für mehr Reife. Als ich den ersten Gipfel der Exekutiven 1995 in Bad Mondorf einberief, war manches von dem, was wir in der Zwischenzeit erreicht haben, Wunschdenken. Ich habe wiederholt bemerkt, dass der Fortschritt eine Schnecke ist. Allerdings kann eine Schnecke in 14 Jahren doch eine ganz ordentliche Strecke zurücklegen. Auch wenn wir noch vieles planen, so haben wir doch schon so manches umsetzen können. Der europäische Rahmen hat uns dabei wesentlich weitergeholfen, aber wir haben in unserer Kernregion eben auch sehr viel Graswurzelarbeit betrieben. Im Fachjargon spricht man von "top down" und "bottom up". Beide ergänzen sich vortrefflich. In unserer Großregion sind die europäischen Binnengrenzen jedenfalls nicht mehr durch das Trennende geprägt, sondern durch das Gemeinsame.

Christophe Langenbrink: Aufgrund der wachsenden Bedeutung der Großregion gibt es ernst zu nehmende Stimmen, die eine neue Form der Governance fordern. Braucht die Großregion eine neue Dimension der Zusammenarbeit?

Jean-Claude Juncker: Was die Großregion vorangebracht hat, waren viele kleine Schritte. Die luxemburgische Präsidentschaft, die jetzt zu Ende geht, hat sich dem kontinuierlichen Ausbau der konkreten Zusammenarbeit verschrieben. Wir wollen die Modellregion Europas sein. Neben den politischen Exekutiven arbeiten die Volksvertreter im Interregionalen Parlamentarierrat zusammen, können wir auf die Vorschläge eines eigenen Wirtsdjafts- und Sozialausschusses zurückgreifen. Ich denke auch an die Beiträge der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Diese strukturierte, institutionalisierte Form der grenzüberschreitenden, regionalen Zusammenarbeit gibt es sonst nirgendwo auf unserem Kontinent. Darauf können wir auch ein bisschen stolz sein. Zur langanhaltenden Selbstzufriedenheit besteht aber kein Anlass. Wir müssen das Erreichte weiter ausbauen und vertiefen. Deshalb wollen wir unsere Arbeit besser strukturieren und koordinieren. Ein Gipfeltreffen der Ministerpräsidenten und Präsidenten, das einmal alle 18 Monate stattfindet, reicht nicht aus. Im Sinne einer Intensivierung der Zusammenarbeit sollte es in Zukunft auch zu regelmäßigen Treffen der Fachminister kommen.

Christophe Langenbrink: Die Luxemburger Präsidentschaft hat vor allem im Bereich Raumplanung neue Akzente gesetzt. Stichwort "polyzentrische Metropolregion": Ist diese Vision der Weg der Zukunft?

Jean-Claude Juncker: Die wirtschaftliche, soziale, kulturelle Landkarte Europas wird immer mehr von Regionen geprägt. Unsere Großregion hat keine Metropole wie London oder Paris, sie stellt keinen Ballungsraum dar wie das Ruhrgebiet. Wir haben deshalb beschlossen, uns zusammenzutun und uns zu einer grenzüberschreitenden polyzentrischen Metropolregion zu entwickeln. Wir werden damit unsere "masse critique" erhöhen oder um es einfach auszudrücken: Wir kriegen mehr Gewicht auf die Waage. Die Europäische Kommission unterstützt dieses Projekt. Eine polyzentrische Metropolregion stellt einen großen Mehrwert dar. Sie wird es uns u. a. ermöglichen, unsere wirtschaftlichen Potentiale zu erhöhen, die Raum- und Transportplanung abzustimmen, Bildungs- und Forschungsnetzwerke zu optimieren.

Christophe Langenbrink: 2002 hat die saarländische Präsidentschaft unter Federführung von Jacques Santer die Zukunftsvision 2020 für die Großregion herausgegeben. Wo sehen Sie die Großregion in zehn Jahren?

Jean-Claude Juncker: Ich bin der damaligen saarländischen Präsidentschaft und Jacques Santer sehr dankbar für dieses Dokument. Es hat mit vielen falschen Vorstellungen, Vorurteilen, Luftschlössern, auch diffusen Ängsten aufgeräumt und der Großregion eine realistische Zukunftsperspektive eröffnet. Vieles von dem, was damals zu Papier gebracht wurde, behält auf Jahre hinaus seine Richtigkeit. Das erkennt man am besten daran, dass die anvisierten Ziele allmählich umgesetzt werden. Ich verweise unter anderem auf die konkreten Fortschritte in Sachen abgestimmte Landesplanung, gemeinsamer Kulturraum, Vernetzung der Hochschulen. In letzterem Bereich streben wir einen integrierten Hochschulraum an. Die Großregion könnte somit die europäische Vorreiterrolle in der Umsetzung des Bologna-Prozesses einnehmen. Gemeinsames Studieren, Forschen, Innovieren werden ihre positiven Auswirkungen auf Wirtschaft und Beschäftigung nicht verfehlen. Transport und Verkehr sind ebenfalls Bereiche von vorrangiger Bedeutung. Ich bin zuversichtlich, dass wir im Jahr 2020 die angestrebten Ziele weitgehend umgesetzt haben werden.

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