"Mehr denn je auf unsere alten Menschen angewiesen", Marie-Josée Jacobs au sujet de l'encadrement des personnes âgées au Luxembourg

Luxemburger Wort: Wie haben sich die Lebensbedingungen respektive das Angebot für Menschen des dritten Alters in Luxemburg während der vergangenen Jahrzehnte verändert?

Marie-Josée Jacobs: Ende der 1980er-Jahre kam es zu großen Entwicklungen in der luxemburgischen Alten- und Pflegepolitik. Aufgrund der damaligen Feststellungen in Bezug auf die bevorstehende Veralterung der Bevölkerung sowie verschiedener Defizite in den Versorgungsformen für pflegebedürftige ältere Menschen wurde 1992 ein gemeinsam mit dem Gesundheitsministerium erarbeiteter Aktionsplan für Senioren vorgestellt. Dieser gab vor, ein strukturiertes Netzwerk aufzubauen, das nicht nur staatliche, kommunale und auch private Dienstleister integrieren, sondern darüber hinaus auch die Pflege zu Hause mit der Heimpfiege koordinieren sollte. Oberstes Ziel war damals wie heute, es dem älteren Menschen zu ermöglichen, so lange wie möglich in seinem eigenen Heim verbleiben zu können. Weitere Anstrebungen waren die Weiter- und Fortbildung der Pflegekräfte sowie die Aufstockung des Personals in den Heimen auf Grund der größeren Bedürfnisse der neuen Bewohner. Auch wurde ein Investitionsplan entschieden, der die Einrichtung von 1 000 neuen Heimbetten sowie die Renovierung und Modernisierung der bestehenden Strukturen vorsah. Konkret heißt dies, dass Luxemburg heute über 5 154 Betten in Alten- und Pflegeheimen verfügt. Mit der Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1999 kam es zu einer verstärkten Entwicklung, besonders auch im häuslichen Bereich. Neben den Hilfs- und Pflegediensten entlasten die damals neu konzipierten psychogeriatrischen Tagesstätten die Familien in schweren Pflegesituationen, indem sie den Betroffenen eine qualitativ hochwertige Umsorgung und Pflege über den Tag anbieten. Darüber hinaus kam es auch zu der Entwicklung eines flächendeckenden Angebots im Bereich des Service "Essen auf-Rädern" und des "Telealarm".

Luxemburger Wort: Welche Rolle spielen die Vereinigungen für Senioren wie beispielsweise die Clubs Senior oder die Amiperas?

Marie-Josée Jacobs: Bereits 1963 gab es Personen, die davon überzeugt waren, dass die Interessen der älteren Menschen verstärkt auf soziopolitischer Ebene vertreten werden müssen. Unter der Leitung von Jean-Pierre Thoma gründeten sie damals die Amiperas. In den mehr als 40 Jahren ihres Bestehens hat die Amiperas immer wieder sowohl auf gesellschaftlicher als auch auf sozialer Ebene eine Vorreiterrolle gespielt. Ich erinnere gerne an die Einführung der auch heute noch viel besuchten "Portes ouvertes", verschiedene Angebote im Seniorensport oder an das Projekt "Essen auf Rädern", an deren Entstehung die Amiperas maßgeblich beteiligt war. Durch ihre Angebote übernehmen die Amiperas und andere Organisationen heute immer noch eine wichtige Funktion im Bereich Vorbeugung vor der Isolation älterer und hochbetagter Menschen. "Prävention" ist auch eines der Leitmotive für viele Aktivitäten der Clubs Senior. Nach dem Austritt aus dem Berufsleben suchen viele Menschen neue Herausforderungen für sich. Hier sollen die 16 regionalen Clubs Senior durch ein beständiges Angebot, der "Generation 55+" Möglichkeiten bieten, neue Wirkungsfelder zu entdecken, sich weiterzubilden oder z. B. auch sportlich aktiv zu werden. Eine Reihe an Initiativen, wie z. B. die der Seniorensicherheitsberater, entstand in Zusammenarbeit mit den Clubs Senior. Heute ist ein weiteres großes Anliegen, ältere Menschen mit Migrationshintergrund auf die Clubs Senior aufmerksam zu machen und zusätzliche Angebote zu entwickeln, die auf ihre spezifischen Bedürfnisse eingehen.

Luxemburger Wort: Luxemburg übernimmt, was die Altenpflege, die Strukturen und die Seniorenarbeit betrifft, eine Vorbildfunktion in Europa. Woraus resultiert dieser hohe Standard respektive ist der Standard das Resultat oder die Anforderung unserer Luxusgesellschaft?

Marie-Josée Jacobs: Es ist richtig, dass wir heute über hochqualifizierte Fachkräfte in der Altenhilfe und -pflege verfügen und dass Luxemburg Spitzenreiter ist, was die Bettenzahl in Alten- und Pflegeheimen für die betroffene Generation anbelangt. Luxemburg unterscheidet sich auf zwei Ebenen von seinen Nachbarländern. Auf der einen Seite liegt der Standard der Leistungen der luxemburgischen Pflegeversicherung sehr hoch. Auf der anderen Seite erlaubt das Gesetz zum "accueil gérontologique" eine Bezuschussung zum Pensionspreis in Altenheimen durch den "Fonds national de solidarité".

Luxemburger Wort: Was hat die Ende der 1990er eingeführte Pflegeversicherung gebracht?

Marie-Josée Jacobs: Die Pflegeversicherung ist ein eigenständiger Zweig der Sozialversicherung und gibt jedem Versicherten gleiches Recht auf Hilfsleistungen im Fall einer Pflegebedürftigkeit, und das unabhängig von seinem Einkommen. 2009 konnten so etwa 7500 Personen im heimischen Umfeld gepflegt werden, weitere 3500 in Alten- und Pflegeheimen. Daraus lässt sich schließen, dass das Ziel, der Pflege im häuslichen Umfeld den Vorrang zu geben, erreicht wurde. Die Finanzierung durch die Sozialversicherung hat darüber hinaus im Wesentlichen dazu beigetragen, die Qualität der Pflege und der Betreuung auf einen hohen Standard zu setzen, sowohl was die Anzahl als auch die Qualifizierung des Pflegepersonals angeht.

Luxemburger Wort: Die Menschen werden immer älter, die Familien- und Gesellschaftsstrukturen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert. Welchen Platz nehmen alte Menschen in der heutigen Gesellschaft ein und wie bedeutend ist ihre Rolle?

Marie-Josée Jacobs: Richtig ist, dass der Anteil der Senioren proportional zu den anderen Altersgruppen in den nächsten Jahren ständig wachsen wird. Meistens zählen wir zu den älteren Menschen alle Personen, die über 60 respektiv 65 Jahre alt sind, also das so genannte dritte und vierte Alter. Als drittes Alter gilt allgemein die Lebensspanne zwischen 60 und 75/80 Jahren, die auch gerne als aktives Alter bezeichnet wird. Personen, die dieser Gruppe angehören, übernehmen oft viele Aufgaben innerhalb ihrer Familie. Manchmal bezeichnet man sie als "Sandwich-Generation", da sie auf der einen Seite ihre Kinder bei der Betreuung ihrer Enkelkinder unterstützen und gegebenenfalls auf der anderen Seite auch von den eigenen pflegebedürftigen Eltern in Anspruch genommen wird. Diese Altersgruppe engagiert sich darüber hinaus sehr häufig auf gesellschaftlicher Ebene und bringt ihr Wissen und ihr Können auf Vereinsebene, sozialen Organisationen u. v. m. ein. In den nächsten Jahren wird unsere Gesellschaft sicherlich mehr denn je auf das Engagement dieser Altersgruppe angewiesen sein und ihr Engagement wird noch wichtiger als heute für den Erhalt der intergenerationellen Solidarität sein.

Luxemburger Wort: Durch die veränderten Familienkonstellationen, hin zu mehr Kleinfamilien, sind immer mehr Menschen im Alter mehr oder weniger auf sich alleine gestellt. Wie hoch ist das Risiko der Vereinsamung?

Marie-Josée Jacobs: Ich bin mir dieses Risikos sehr bewusst. Seit Jahren unterstützt das Familienministerium Initiativen, die der Vereinsamung entgegenwirken sollen. Auf der einen Seite sind das Organisationen wie die Amiperas und die Clubs Senior, die die aktive Teilnahme am gesellschaftlichen und sozialen Leben älterer Menschen fördern. Auf der anderen Seite unterstützen wir Organisationen wie "Contact humain", in denen Ehrenamtliche sich engagieren, Personen in Alten- und Pflegeheimen zu besuchen, die keine Familie oder keinen Freundeskreis mehr haben oder wo die Kinder z. B. im Ausland leben. Gemeinsame Projekte zwischen Institutionen wie einer "Maisons Relais" und eines Altenheimes fördern nicht nur die intergenerationelle Solidarität, sondern tragen auch dazu bei, gegen die Vereinsamung von älteren Menschen anzugehen.

Luxemburger Wort: Sind die betreuten Wohnstrukturen die Alternative zum einstigen Zusammenleben in den Großfamilien?

Marie-Josée Jacobs: Das "Betreute Wohnen - Logement encadré" bietet verschiedene Service-Leistungen an, die früher in Großfamilien von Familienmitgliedern übernommen wurden. Dies erlaubt es älteren Menschen, die unabhängig von ihrer Familie leben wollen oder müssen, möglichst lange ein eigenständiges Leben führen zu können. Viele dieser Dienstleistungen können jedoch auch im häuslichen Umfeld erworben werden. Das Leistungsangebot in den "Logements encadrés" ist sehr unterschiedlich und hat seinen Preis. Hier sollte jeder genau für sich überlegen, ob das Preis-Leistungsverhältnis im Einklang mit seiner finanziellen Situation steht. Es ist sicherlich eine Alternative, die verhindert, allein und isoliert zu sein.

Luxemburger Wort: Ist das Angebot für Senioren im Großherzogtum ausreichend, oder ist eventuell eine Erweiterung der Strukturen vorgesehen?

Marie-Josée Jacobs: Das aktuelle nationale Angebot an Strukturen für ältere Menschen ist sehr groß, sowohl was die Pflegeheime, die Cipas (Centres intégrés pour personnes âgées) und die psychogeriatrischen Tagesstätten betrifft, als auch die Hilfs- und Pflegedienste. Man muss wissen, dass das bestehende Angebot es ermöglicht, innerhalb weniger Tage eine Betreuung im häuslichen Umfeld, gemäß den Vorgaben der Pflegeversicherung, zu organisieren. Momentan bestätigen mir viele Träger von Cipas, dass beim Eintritt ins Altenheim die heutigen Bewohner weitaus pflegebedürftiger sind als dies noch vor einigen Jahren der Fall war. Ich gehe davon aus, dass sich die Cipas in den nächsten Jahren immer mehr, auf Grund der Bedürfnisse ihrer Bewohner, in Richtung Pflegeheime weiterentwickeln werden. Was die Bildungs- und Freizeitangebote angeht, so haben sich die Clubs Senior landesweit etabliert. Es gibt vielleicht noch die eine oder andere Region, wo ein Entwicklungspotential besteht, aber grundsätzlich muss man auch hier von einem flächendeckenden Angebot ausgehen.

Luxemburger Wort: Werden die Angebote für Senioren auch von den älteren ausländischen Mitbürgern, die einst als Gastarbeiter nach Luxemburg kamen und hier ihre neue Heimat gefunden haben, genutzt und wie gestaltet sich das Zusammenleben von unterschiedlichen Nationalitäten im dritten Alter?

Marie-Josée Jacobs: Die kulturellen Unterschiede sind in Luxemburg einzigartig und diese spiegeln sich natürlich auch im Alter wider. In jeder Kultur hat das Alter einen besonderen Stellenwert, der grundlegend dafür ist, welche Prioritäten Familien sich für die Umsorgung ihrer älteren Mitglieder setzen. Die Ende der 60er- Anfang der 70er-Jahre immigrierte portugiesische Bevölkerung beginnt vermehrt, ins Alter der Pensionierung zu kommen. Viele Familien haben ihr Ziel, den Lebensabend im Heimatland zu verbringen, aufgegeben und wollen hier in Luxemburg bleiben. Dadurch sind wir gefordert, auf diesem Gebiet zu handeln. Seit etwas mehr als zwei Jahren gibt es einen vom Familienministerium initiierten Posten des "agent interculturel". Seine Aufgabe besteht darin, mit Hilfe der respektiyen Vereinigungen die ausländischen Bürger über die bestehenden Angebote der Altenhilfe und -pflege zu informieren. Des Weiteren soll er mithelfen, eine Vernetzung von luxemburgischen und ausländischen Vereinigungen zu initiieren, um somit den ausländischen Senioren den Zugang zu bestehenden Angeboten zu ermöglichen. Darüber hinaus sollen neue spezifische sowie interkulturelle Projekte gefördert werden. Seit einem Jahr besteht auch in Zusammenarbeit mit dem "Office luxembourgeois de l'accueil et de l'intgration" (OLAI), der "Entente des gestionnaires des institutions pour personnes agées" (EGIPA) und der "Maison des associations", ein "Think tank", das sich dem Thema der älteren Migranten widmet und speziell die Bedürfnisse dieser Zielgruppe analysiert. Zu erwähnen bleibt auch noch, dass eine Vertreterin die Interessen der nicht-luxemburgischen Senioren im "Conseil suprieur des personnes äges' vertritt. Rezentere Veröffentlichungen des Famiienministeriums gibt es zwischenzeitlich in mehreren Sprachen (Deutsch, Französisch, Portugiesisch und Italienisch). Portugiesische Mitbürger bleiben größtenteils auch im hohen Alter in ihren Familien. Andererseits haben wir Pflegepersonal aus der zweiten und dritten Generation der portugiesischen Einwanderung, die Luxemburgisch und Portugiesisch sprechen und somit den Bedürfnissen von luxemburgischen und portugiesischen alten Menschen gerecht werden.

Membre du gouvernement

JACOBS Marie-Josée

Organisation

Ministère de la Famille et de l'Intégration

Date de l'événement

05.05.2011

Type(s)

gouv:tags_type_event/interview