"Die deutsche Lokomotive ist nicht ersetzbar", Jean-Claude Juncker au sujet de la crise de la dette publique en zone euro et de l'Allemagne

General Anzeiger: Haben Sie sich eigentlich - ähnlich wie viele Italiener - gefreut, als Silvio Berlusconi zurückgetreten ist?

Jean-Claude Juncker: Ich bin schon sehr beeindruckt davon, dass die Italiener heute so tun, als hätten sie ihn nie gewählt. Trotzdem: Es war vernünftig, dass er sich aus der ersten Reihe der Politik zurückgezogen hat, weil er zu einem italienischen Glaubwürdigkeitsproblem mit beigetragen hat.

General Anzeiger: Sind Sie erleichtert?

Jean-Claude Juncker: Ich will nicht sagen erleichtert, aber wir haben das mit pointiertem Interesse aufgenommen. Die politisch relevanten Instanzen haben nicht immer das umzusetzen verstanden, was sie uns in Aussicht gestellt hatten.

General Anzeiger: Geht es mit Italien jetzt wieder aufwärts?

Jean-Claude Juncker: Ich bin da zurückhaltend, denn das Problem kann man nicht allein an Berlusconi festmachen. Die Italiener müssen sich jetzt gemeinsam auf den Reformweg machen.

General Anzeiger: Ist es der Weg aus der Schuldenkrise, wenn jetzt wie in Italien mit Mario Monti und in Griechenland mit Lucas Papademos Technokraten die Regierung übernehmen?

Jean-Claude Juncker: Auch solche Regierungen brauchen parlamentarische Mehrheiten. Aber es stimmt. Gerade die jüngste Geschichte Italiens zeigt, dass es fortschrittsfördernd war, wenn sogenannte Technokraten das Ruder übernommen haben. Ohne den früheren Notenbankpräsidenten Carlo Azeglio Ciampi an der Spitze der Regierung Anfang der 90er Jahre wäre es Italien vermutlich nicht gelungen, Einzug in die europäische Währungsunion zu halten.

General Anzeiger: Von Italien nach Deutschland. Viele Menschen haben angesichts der Vorgänge an den Finanzmärkten Angst. Können Sie ihnen sagen, die Angst ist unbegründet?

Jean-Claude Juncker: Ich bin nicht der Ober-Beruhiger der Eurozone. Ich habe jedes Verständnis dafür, dass viele ängstlich werden, vor allem in Deutschland. Hier mussten die Menschen zweimal machtlos der Totalzerstörung des gesamten Volksvermögens zusehen.

General Anzeiger: Kann so etwas wieder passieren?

Jean-Claude Juncker: Es gibt keinen Grund zu denken, dass das Ersparte in die Gefahrenzone geriete. Ich sehe weder eine ausgeprägte Inflationsgefahr noch die Gefahr des Zusammenbrechens der Währungszone und damit auch der nationalenWährung der Deutschen.

General Anzeiger: Viele haben Angst. Auf der anderen Seite wächst die deutsche Wirtschaft. Ein Widerspruch?

Jean-Claude Juncker: Nein, das wundert mich nicht. Die Wachstumskräfte in der Bundesrepublik sind eben sehr stark.

General Anzeiger: Ist der deutsche Einfluss in der EU eigentlich zu stark?

Jean-Claude Juncker: Ich bin der Auffassung, dass Deutschland als stärkste Volkswirtschaft eine Zugfunktion für den ganzen Euroraum hat. Die könnte niemand ersetzen, wenn die deutsche Lokomotive ausfallen sollte. Es ist richtig, der deutsche Einfluss in der Eurozone ist groß, er wird in Deutschland aber als besonders groß empfunden.

General Anzeiger: Wie betrachten Sie denn die Debatte über die Zukunft des Euro in Deutschland?

Jean-Claude Juncker: Zum Teil als störend. In Deutschland wird oft so getan, als hätte das Land keine Probleme, als wäre Deutschland schuldenfrei und alle anderen hätten überhöhte Schulden. Ich halte die Höhe der deutschen Schulden für besorgniserregend. Deutschland hat höhere Schulden als Spanien. Nur will das hier keiner wissen. Es erscheint bequemer zu sagen, die Menschen im Süden wären faul und die Deutschen würden malochen. So ist das aber nicht.

General Anzeiger: Ein Zeichen für eine Entsolidarisierung in Europa?

Jean-Claude Juncker: In der praktischen Politik nicht. Dort funktioniert die Solidarität der einen - Deutsche, Österreicher, Luxemburger, Niederländer - mit den von der deutschen Presse als klamme Staaten bezeichneten Südländern. Es schien zuletzt so, dass unter den Staats- und Regierungschefs die Krise an den Nerven zerren würde, wenn man etwa an die harschen Töne des französischen Staatspräsidenten Richtung Großbritannien denkt.

Es gehört zu den Besonderheiten europäischer Debatten, dass einige nach außen berichten, was sie in einer Sitzung gesagt haben. Andere, die das gleiche gesagt haben, berichten anschließend nicht darüber. In Frankreich tut es gut, so dazustehen, als wäre man der einzige, der gegen die Briten aufsteht.

General Anzeiger: Haben Sie intern das gleiche gesagt wie Nicolas Sarkozy?

Jean-Claude Juncker: Ich bin ein energisch Vortragender in den Sitzungen, aber ein höflicher Sänger nach außen.

General Anzeiger: Sehen Sie Licht am Ende des Tunnels, was die Schuldenkrise angeht?

Jean-Claude Juncker: Ich sehe die Bereitschaft aller, die Konsolidierung der öffentlichen Finanzen in der Eurozone ernsthaft anzugehen. Das gilt für Spanien und teilweise für Italien. Das gilt auch für Griechenland, das erhebliche Maßnahmen eingeleitet hat. Das reicht zwar noch nicht aus, aber Griechenland ist auf einem guten Weg. Ich würde diesen Weg aber als nicht so gradlinig bezeichnen, dass er es jetzt schon erlaubte, Licht am Ende des Tunnels zu sehen.

General Anzeiger: Was ist mit Irland und Portugal?

Jean-Claude Juncker: Irland ist dabei, die Verfehlungen der jüngsten Vergangenheit auszubügeln und an Wettbewerbsfähigkeit zu gewinnen. Auch Portugal ist auf einem guten Weg. Das zeigt, dass die Rettungsschirme ihre Wirkung entfalten, wenn auf der "Nehmerseite" die notwendigen Anstrengungen konsequent unternommen werden. Die Solidarität der einen Länder muss einhergehen mit der gewollten Solidität der anderen.

General Anzeiger: Welcher Staat wird denn als nächstes unter Druck geraten, gemessen etwa an dem Zinssatz, den dieses Land für seine Staatsanleihen aufbringen muss?

Jean-Claude Juncker: Ich denke mir, dass Sie sich denken, dass ich mir denken würde, wenn Sie denken, dass ich die Frage beantworten würde, ich falsch ticken würde, weil sie mich zum Faischticken verleiten möchten. Wenn ich hier den Namen eines Landes nenne, dann hätte das ja orientierende Wirkung für die Finanzwelt. Ich sage: Alle bemühen sich redlich, die Staatsfinanzen in Ordnung zu bringen. Wer das tut, bewegt sich langsam aus der Gefahrenzone.

General Anzeiger: Wann sind wir aus dem Gröbsten heraus?

Jean-Claude Juncker: Wir haben in Europa aufgrund der durch die Krise der amerikanischen Finanzökonomie ausgelösten Krise der Realökonomie 20 Jahre Konsolidierungspolitik eingebüßt. Das griechische Schuldendrama ist nicht in zwei Jahren zu beheben, die italienischen Schuldenstände sind nicht in zwei Jahren zu halbieren. Die Prognose der Kanzlerin, dass die Gesamtfolgen der Krise erst nach zehn Jahren bewältigt sein werden, halte ich für realistisch.

General Anzeiger: Was ist zu tun?

Jean-Claude Juncker: Wir müssen Jahr für Jahr zeigen, dass es besser wird. Wenn es immer schlimmer wird, gehen wir elenden Zeiten entgegen.

General Anzeiger: Und wenn die Realwirtschaft wieder in eine solche Krise stürzt wie 2008/2009?

Jean-Claude Juncker: Ein Land, das sich in einer Schuldenspirale befindet, wird nie Wachstumskräfte in genügend großer Zahl ansammeln können. Es gibt keine wirkliche Alternative zur Entschuldung der öffentlichen Finanzen. Wer so intensiv konsolidieren muss wie die Griechen, die Italiener oder die Spanier, kommt an einer vorübergehenden Rezessionsphase nicht vorbei. Danach kann die Wirtschaft wieder Wachstumskräfte freisetzen.

General Anzeiger: Eine Alternative wäre ein Austritt Griechenlands aus dem Euroraum. Dann könnte das Land über eine Abwertung seiner Währung die Exportfähigkeit seiner Wirtschaft steigern.

Jean-Claude Juncker: Das ist nur eine theoretische Sicht. Wenn Griechenland morgen die Drachme einführt, würde sie 60 Prozent im Direktverhältnis zum Euro an Wert einbüßen. Der Schuldendienst wäre aber weiter in Euro zu begleichen. Ein Austritt hätte also einen dramatischen Zusammenbruch des griechischen Binnenkonsums zur Folge. Es gäbe einen Ansturm auf die griechischen Banken. Der Rest des im Land verbliebenen Kapitals würde abgezogen. Ein katastrophales Szenario.

General Anzeiger: Warum ist es eigentlich so schwierig, eine wirkungsvolle Finanzmarktregulierung auf den Weg zu bringen?

Jean-Claude Juncker: Die Finanz- und die folgende Wirtschaftskrise führe ich darauf zurück, dass wir uns stückchenweise von den Kardinaltugenden der Sozialen Marktwirtschaft verabschiedet haben, dass sich die Finanzwirtschaft von der Realwirtschaft entkoppelt hat. Wenn eine deutsche Bank mit dem Slogan wirbt "Lassen Sie Ihr Geld über Nacht arbeiten", dann ist das eine verrückte Vorstellung, dass man nichts mehr selbst tun muss, um zu Wohlstand zu gelangen. Dass sich die Europäer jetzt auf den Weg der Finanzmarktregulierung machen, ist doch die richtige Lektion aus der Krise. Wir dürfen nicht als Regierungen, als Völker, als ganze Volkswirtschaften zum Spielball der Finanzmärkte werden. Wir müssen die Finanzwirtschaft wieder auf ihre dienende Funktion zurückführen.

General Anzeiger: Aber gerade in Großbritannien gibt es erhebliche Widerstände.

Jean-Claude Juncker: Ich bin Vorsitzender der Eurogruppe und nicht Präsident des Europäischen Rates. Aber es ist klar: Auf Dauer wird es für Großbritannien keine Sonderwege geben dürfen. Irgendwann ist das Ende der Fahnenstange erreicht.

General Anzeiger: Treibt es Sie nicht auf die Palme, wenn wohlmeinende Ratschläge oder auch Forderungen aus den USA kommen?

Jean-Claude Juncker: Ich bin froh, dass wir nicht die amerikanischen Haushaltsdefizite und Schuldenstände haben.

General Anzeiger: Sie kämpfen leidenschaftlich gegen die Schuldenkrise und für den Euro.Was treibt sie an?

Jean-Claude Juncker: Mich hat immer der Grabstein von Willy Brandt inspiriert. Dort steht: Man hat sich bemüht. Ich bemühe mich redlich.

Membre du gouvernement

JUNCKER Jean-Claude

Organisation

Ministère d'État

Date de l'événement

17.11.2011

Type(s)

gouv:tags_type_event/interview