"Kritischer Geist: Schule als Stimulator", Mady Delvaux-Stehres au sujet de la rentrée scolaire

Tageblatt: Sind Sie gerne Bildungsministerin oder gibt es Tage, an denen Sie Ihren Job hassen und gerne etwas anderes machen würden?

Mady Delvaux-Stehres: Nein, ich hasse meinen Job nicht. Obwohl ich zugebe, dass ich mir zwar manchmal sage, heute war aber ein schwerer Tag, bin ich immer noch sehr gerne Bildungsministerin.

Tageblatt: Das hätte jetzt wohl jeder Minister geantwortet

Mady Delvaux-Stehres: Ja, das nehme ich an. Aber man ist schließlich auch freiwillig Minister. In die Politik zu gehen und sich zu engagieren, macht man freiwillig. Ich ging aus dem Bedürfnis heraus, etwas für die Gesellschaft zu tun, in die Politik. Und wenn ich mir alle Dossiers oder Themenbereiche anschaue, an denen man arbeiten kann, um der Gesellschaft zu dienen, dann ist für mich die Schule doch eines der spannendsten. Denn Schule ist Zukunft.

Tageblatt: Wenn Sie nun Ihre Erfahrung als Bildungsministerin mit Ihren Erfahrungen aus anderen Ressorts vergleichen

Mady Delvaux-Stehres: Ich war bereits Ministerin für Gesundheit, für Jugend, für Transport und für Kommunikation. Sehr gerne war ich auch im Gesundheitsministerium. Denn auch dort gab es viel zu tun. Wir haben an der Krankenkassenreform gearbeitet und die Pflegeversicherung eingeführt. Mir macht es Spaß, an konkreten Dossiers zu arbeiten, die mir das Gefühl geben, etwas bewegen und verbessern zu können. Auch wenn man natürlich immer wieder auf Widerstand stößt. Bei der Krankenkassenreform gab es mindestens genauso viel Widerstand wie jetzt bei der Schulreform, nur dass es nun mal weniger Doktoren als Lehrer gibt. (lacht)

Tageblatt: Sind Sie eine gute Ministerin?

Mady Delvaux-Stehres: Natürlich!

Tageblatt: Sind Sie eine bessere Ministerin oder eine bessere Lehrerin?

Mady Delvaux-Stehres: Ich war auch sehr gerne Lehrerin. Diese zwei Berufe sind schwer zu vergleichen. Für mich liegt der Vorteil als Politikerin darin, dass der Beruf abwechslungsreicher ist. Ich war 15 Jahre lang Lehrerin, nach einigen Jahren schleicht sich eine gewisse Routine ein. Auch wenn die Schüler zwar immer andere sind, bleibt der Rhythmus der gleiche. In der Politik ist jeder Tag anders. Darin liegt für mich der Reiz. Du weißt morgens nie, wann du abends nach Hause kommst.

Tageblatt: Sind Sie offen für Vorschläge von außen?

Mady Delvaux-Stehres: Das kann ich guten Gewissens bejahen. Ich arbeite gerne im Team, ich bin niemand, der seine Entscheidungen alleine fällt. Ich höre zu. Doch auch wenn ich im Kopf zwar ziemlich geordnet bin, verliere ich viel. Es kommt schon häufig vor, dass ich irgendein Papier auf meinem Schreibtisch suche. Manchmal brauche ich auch etwas mehr Zeit, um Entscheidungen zu treffen.

Tageblatt: Worin sehen Sie bildungspolitisch gesehen die größten Herausforderungen für Luxemburg in den kommenden Jahren/Jahrzehnten?

Mady Delvaux-Stehres: Die größte Herausforderung für Luxemburg ist sicherlich, unser traditionelles Schulsystem mit seiner Dreisprachigkeit und seinen öffentlichen Schulen in Einklang mit den Veränderungen in unserer Bevölkerung zu bringen. Unser Schulsystem wurde für eine relativ homogene Bevölkerung entworfen. Für fast alle Schüler war Luxemburgisch die Muttersprache, darauf aufbauend lernten sie Deutsch und Französisch. Es war und ist ein wichtiges Ziel im luxemburgischen Schulsystem, den Schülern von beiden Kulturen, der deutschen und der französischen, so viel wie möglich mit auf den Weg zu geben. Doch heute haben wir eine veränderte Situation, die uns dazu zwingt, die hohen sprachlichen Anforderungen an die Schüler zu überdenken. Denn heute spricht nur noch eine Minderheit der Schüler zu Hause Luxemburgisch. An diese veränderte Sprachsituation muss sich die Schule anpassen. Es geht für mich auch darum, die große Errungenschaft im luxemburgischen Schulsystem, nämlich dass fast alle Kinder öffentliche Schulen besuchen, beizubehalten. Kinder aus unterschiedlichen sozialen und kulturellen Milieus sollen sich in einer Klasse wiederfinden. Sie alle sollen die gleiche Chance haben, sich so hoch wie möglich zu qualifizieren, um auf dem internationalen Markt mithalten zu können.

Tageblatt: Deshalb die Schulreform?

Mady Delvaux-Stehres: Man macht keine Reformen um der Reform willen, sondern weil sich die Gesellschaft verändert. Man braucht sich nur die unterschiedlichen Etappen im luxemburgischen Schulsystem anzusehen: Früher ging es darum, eine Elite auszubilden, dann mussten Arbeiter ausgebildet werden, die in der Stahlindustrie arbeiteten, dann - in den siebziger Jahren - gab es eine neue Welle der Demokratisierung. Bildung für jeden war das Schlagwort. Und heute sind wir in einer Zeit, in der wir unsere Schüler weltoffen im Dienste einer Dienstleistungsgesellschaft ausbilden müssen. Schule muss jeden Tag neu erfunden werden.

Tageblatt: Was muss man heute - im Google-Zeitalter - unbedingt wissen bzw. lernen?

Mady Delvaux-Stehres: Die Basiskompetenzen sind beschrieben, europaweit. Darüber herrscht Einigkeit. Die größte Herausforderung ist, den Schülern beizubringen, richtig mit Texten umgehen zu können. Mit geschriebenen ebenso wie mit gesprochenen Texten. Sie müssen nicht nur lesen lernen, sondern vor allem auch lernen, das Gelesene zu interpretieren. Es geht um das Herausbilden von Kriterien, nach denen Texte bewertet werden können. Dazu bedarf es eines kritischen Geists. Und diesen kritischen Geist zu stimulieren, ist Hauptaufgabe der Schule. Damit sich ein kritischer Geist entwickeln kann, braucht man jedoch auch ein solides Wissen. Schließlich kann man seine Kompetenzen nicht im leeren Raum üben. In unserem vielsprachigen System ist es eine große Herausforderung, alle Schüler dazu zu bringen, mit komplizierten Texten kritisch umgehen zu können.

Tageblatt: Schüler sind heute sehr beschäftigt, auch durch außerschulische Tätigkeiten. Brauchen Kinder nicht auch Zeit, um sich zu langweilen?

Mady Delvaux-Stehres: Ja, Kinder müssten Zeit haben, um sich zu langweilen. Wenn ich selbst mein nahes Umfeld beobachte, bekomme ich jedoch das Gefühl, dass die Zeit zur Langeweile immer knapper wird. Wenn Kinder sich heute langweilen, dann setzen sie sich vor den Fernseher oder den Computer und prompt langweilen sie sich nicht mehr. Deshalb muss man ihnen die Zeit zur Langeweile quasi auf zwingen. Als ich Kind war, spielten wir auf der Straße und gingen zu Fuß in die Schule. Da waren wir dann froh, in der Schule ruhig sitzen zu müssen. Heute ist es umgekehrt, die Schüler sitzen sowieso ständig. Da stellt sich eher die Frage, wie bekommen wir sie in Bewegung?

Tageblatt: Wann haben Sie sich zum letzten Mal (im positiven Sinne) gelangweilt?

Mady Delvaux-Stehres: Jetzt, im Sommerurlaub. An einem normalen Arbeitstag passiert mir das auch nicht.

Tageblatt: Mit welcher historischen Figur würden Sie sich gerne mal unterhalten?

Mady Delvaux-Stehres: Mit Seneca.

Tageblatt: Warum?

Mady Delvaux-Stehres: Ich bin Lateinlehrerin, Seneca hat mich immer schon beeindruckt, dieser Widerspruch zwischen dem stoischen Philosophen auf der einen und dem Lehrer von Nero auf der anderen Seite. Die Widersprüche im Leben von Seneca faszinieren mich sehr.

Tageblatt: Wenn Sie mehrere Leben hätten, was würden Sie machen, wenn Sie nicht Ministerin wären?

Mady Delvaux-Stehres: Ich würde gerne studieren. An die Universität gehen und etwas Neues lernen. Ich würde mich für Philosophie einschreiben.

Tageblatt: Keine Naturwissenschaft?

Mady Delvaux-Stehres: Naturwissenschaft ist ein wichtiges Stichwort. In ihrer richtigen Vermittlung liegt auch eine der wichtigsten Herausforderungen für die Schule von heute. Ich bin davon überzeugt, dass es nahezu unmöglich ist, sich ein gewisses Grundwissen in den Naturwissenschaften anzueignen, wenn man damit nicht in frühen Schuljahren beginnt. Philosophie hingegen kann man sich auch später mit Hilfe seiner Lebenserfahrung aneignen. Zu meiner Schulzeit war die Bildung in Naturwissenschaften gerade bei Mädchen äußerst mangelhaft. Bei mir auch. Heute lese ich Bücher über das Weltall zum Beispiel und verstehe nicht einmal die Hälfte. Ich finde es auch faszinierend, Mathematikern oder Physikern zuzuhören, doch ist mein naturwissenschaftliches Grundwissen nicht ausreichend, um ihnen folgen zu können. Das ist schade.

Tageblatt: Was ist das Wichtigste im Leben?

Mady Delvaux-Stehres: Mit sich selbst im Reinen zu sein. Denn, wenn man mit sich in Frieden lebt, dann packt man den Rest auch. Man hat keine Lust auf Streit, es würde keine Kriege geben. So, Schluss. Das ist meine Antwort für heute.

Membre du gouvernement

DELVAUX-STEHRES Mady

Thème

Jeunesse

Date de l'événement

17.09.2012

Type(s)

gouv:tags_type_event/interview