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"Keine Generation darf sich selbst genug sein". Jean-Claude Juncker revient sur 30 ans de présence au gouvernement
Jean-Claude Juncker: Rückblickend fällt mir auf, dass sich die Geschichte des Landes immer wiederholt und dabei doch immer wieder anders ist. Nach meinen ersten 25 Jahren in der Regierung war ich der Meinung, dass wir so etwas Schlimmes wie die Stahlkrise nicht mehr erleben würden. Und dennoch befinden wir uns jetzt wieder in einer Krisensituation, die sich schlimmer anlässt als das, was wir in den 80er-Jahren erlebten, weil sie, bei uns wie bei unseren Nachbarn, alle Wirtschaftsbereiche betrifft. Im selben Moment tritt sie überall in der Welt auf, anders als das damals im Stahlsektor der Fall war und deshalb in Luxemburg vor allem als nationale Krise empfunden wurde. Mir fällt auf, dass wir heute dieser Krise mit denselben Mitteln wie vor 30 Jahren Herr zu werden versuchen, Stichwort Tripartite. Und wir merken, dass das heute nicht mehr so gut funktioniert. Aber auch das ist z. T. eine falsche Wahrnehmung, weil, wie heute, auch in den 80er-Jahren die Tripartite nicht alle Probleme löste. Auch habe ich in diesen 30 Jahren sehr viel gelernt, über Dinge, Menschen, mich selbst. Diese Zeit hat mich in meinen Grundüberzeugungen bestärkt ...
Luxemburger Wort: Und das sind welche ...?
Jean-Claude Juncker: Nun, dass die Wirtschaft da ist, um den Menschen zu dienen und nicht umgekehrt. Und dass alles, was man unternimmt, in der Wirtschaft, im Gewerkschaftsleben, in der Politik, in der Publizistik, sich an den Prinzipien des Allgemeinwohls zu orientieren hat. Es ist falsch, sich an Besitzständen festzukrallen oder sich in Korporatismen einzuigeln, was zu Strukturkonservatismus führt. Ich stehe unverrückbar und für immer auf dem Boden der Christlichen Soziallehre.
Luxemburger Wort: Sie sind damals mit 28 Jahren in die Regierung gekommen ...
Jean-Claude Juncker: Ja, und das war in gewisser Weise zu früh. Ich bedauerte oft, auch aus einem Anfangsverdacht heraus, dass ich nicht aus eigener, vorangegangener beruflicher Erfahrung, sondern aus der Erfahrung anderer das erlernte, was für die Politik wichtig war. Diese Realität, die mir fehlte, habe ich immer im Gespräch mit Menschen aller Herkünfte versucht mir anzueignen. Als ich 1982 Staatssekretär wurde, hatte ich mich mental darauf eingestellt, dies nach 18 Monaten eventuell nicht mehr zu sein, auch weil mir Pierre Werner damals sagte, sich intellektuell und mental zu jeder Zeit auf einen Abschied aus dem öffentlichen Amt vorzubereiten. Tatsächlich wird man sonst Gefangener einer Atmosphäre, die ohnehin nach einer Reihe Jahre ihre erotische Wirkung verliert.
Luxemburger Wort: Gab es Menschen oder Vorbilder, die Sie in dieser Zeit inspirierten?
Jean-Claude Juncker: Ich hatte und habe immer noch Vorbilder. Pierre Werner brachte mir bei, dass man sich im höchsten Regierungsamt - ohne mir dieses bereits in Aussicht zu stellen - von vielen parteipolitischen Betrachtungsweisen loslösen muss. Deshalb habe ich auch als Präsident meiner Partei, ohne die ich nicht das wäre, was ich heute bin, demissioniert, als ich Staatsminister wurde. Eine solche Vermischung wäre nicht gut, auch nicht für die Partei, die kein Staatsministerwahlverein sein darf. Jacques Santer brachte mir die wesentliche Lektion bei, dass man jedem, mit dem man spricht, auf Augenhöhe begegnen muss und diesen nicht als weniger intelligent als man selbst betrachten darf. Man hat nicht automatisch Recht, weil man Minister oder Staatsminister ist. Auch musste ich Jacques Santer versprechen, immer dafür zu sorgen, dass ich gut schlafen könne. Bis auf eine Brüsseler Nacht, als es um das Luxemburger Bankgeheimnis ging, habe ich tatsächlich immer gut geschlafen. Jean Spautz war ein anderes Vorbild, das mir das Volksparteiliche in der Politik, das Verständnis unseres Volkes, Prinzipien der Christlichen Soziallehre näherbrachte.
Luxemburger Wort: Und welche Personen haben Sie auf internationaler Ebene geprägt?
Jean-Claude Juncker: Relativ viele und jede auf ihre Art. Was mir auf internationaler Bühne auf stärksten auffiel, ist dass die anderen auch nur mit Wasser kochen. Es ist ja so, dass man als Luxemburger mit viel weniger Mitteln, Unterstützung und demographischem Gewicht dasselbe leisten muss. Das muss man dann durch eigenständiges Auftreten und Risikobereitschaft ausgleichen, vor allem in der Europapolitik, wo man im geeigneten Moment nationales mit kollektivem Interesse in Einklang zu bringen verstehen muss. Solches und ähnliches habe ich u. a. von Helmut Kohl gelernt.
Luxemburger Wort: Woraus haben Sie Ihre Motivation geschöpft, um so lange in der Politik auf höchster Ebene durchzuhalten?
Jean-Claude Juncker: Es gibt schon Momente, in denen man sich neu motivieren oder begründen muss. Die wesentliche Kraft liegt in starken Uberzeugungen, wie in der erwähnten Christlichen Soziallehre. Es mag überzogen klingen, aber irgendwie treibt einen das Bewusstsein, dazu beizutragen, die Welt etwas besser oder gerechter zu machen. Zum Beispiel habe ich immer darauf gedrängt, das Niveau unserer Entwicklungshilfe hochzuhalten. Von dieser Notwendigkeit bleibe ich überzeugt, auch wenn mir erstaunlich viele Menschen heute schreiben, damit aufzuhören. Ich erinnere dann immer daran, dass jeden Tag 25000 Kinder an Hunger sterben. Das Urvertrauen, das ich oft im Gespräch mit Menschen auf der Straße erfahre, macht mich zugleich froh und bescheiden.
Luxemburger Wort: Im Rückblick auf die vergangenen 30 Jahre und im Ausblick auf die Zeit, die kommt: Wie optimistisch sind Sie für die Zukunft unseres Landes?
Jean-Claude Juncker: In den vergangenen 30 Jahren gab es ja nicht immer Ruhe und Sorglosigkeit. Es war nicht immer nur einfach, vor allem als Finanzminister. Deshalb wäre es zu einfach, jetzt auf einmal alles anders machen zu wollen. Allerdings, bei aller Notwendigkeit von Strukturreformen und Anpassungen, will ich nicht, dass in Zukunft die mit den kurzen Beinen sich mehr nach der Decke strecken müssen als die mit den langen Beinen. Ich wehre mit auch dagegen, dass jeder Reformansatz und jede Veränderung gleich als Sozialabbau oder Verrat am kleinen Mann verschrien wird. Wir müssen uns auf ein langsameres Wirtschaftswachstum einstellen und mit der Perspektive abfinden, dass wir auf absehbare Zeit nichts hinzu bekommen werden. Vergleichen wir uns doch mit denen, die mit uns vergleichbar sind und sehen wir doch ein, dass es den meisten Menschen in unserem Land gut geht. Meistens sind es die, denen es nicht so gut geht, die sich am wenigsten beklagen. Ich sehe, dass wir in Zukunft einer Verschuldungslogik entgegen steuern, die die intergenerationelle Gerechtigkeit in der Bevölkerung gefährdet.
Luxemburger Wort: Wie erklären sie sich die Schwierigkeit, Änderungen in dieser Hinsicht herbeizuführen? Gibt es bei uns keine "Ethik des Genug"?
Jean-Claude Juncker: Es ist sicher kein Fehler der Politik, dass sie dafür sorgt, in Luxemburg z. T. drastisch höhere Mindestlöhne, Renten, eine höhere Beschäftigungsgarantie usw. zu garantieren allerdings nur solange, wie wir uns das leisten können. Und wir müssen wissen, dass wir mit Rücksicht auf kommende Generationen uns heute schon in Frage stellen müssen. Wenn man das tut, erntet man oft Kritik. Ich erinnere an meine früheren Hinweise auf den 700.000-Einwohner-Staat bei der Rentendiskussion, an meine Warnung vor der Rentenmauer. Deshalb müssen wir unseren Zukunftseifer immer wieder hinterfragen. Keine Generation darf sich selbst genug sein. Wir wären heute nicht dort, wo wir sind, hätten unsere Vorgängergenerationen nicht an die Zukunft, und damit an uns gedacht.
Luxemburger Wort: Was entgegnen Sie den Kritikern, die eine ungenügende Krisenbekämpfung bemängeln?
Jean-Claude Juncker: Die kann man so nicht gelten lassen. Unsere Maßnahmen für einen breiteren Spielraum zur Krisenbekämpfung gehen immerhin bereits auf 2006 zurück. Ich nenne nur die Stichworte: Indexmodulierung mit und ohne Einigung der Sozialpartner, Desindexierung von Familienzulagen, Pensionskürzungen beim Staat, Einheitsstatut, Rentenreform usw. Ich lasse nicht zu, dass all die, die gegen fast jede der bisher unternommenen Strukturreformen waren, jetzt nach mehr Reformen schreien.
Luxemburger Wort: Fehlt es jedoch nicht an einem weiteren substantiellen Maßnahmenpaket?
Jean-Claude Juncker: Natürlich braucht man energische Krisenbekämpfungsmaßnahmen, allerdings nicht egal welche. Wir haben unser Investitionsniveau hoch gehalten, um nicht der Konjunktur zu schaden. Eine Aufweichung des Kündigungsschutzes, den manche wollen, ist mit mir nicht zu machen. Steuererhöhungen in großem Maße erübrigen sich, weil die Steuertabeile in den vergangenen Jahren schon nicht mehr an die Inflation angepasst wurde, de facto die Steuerlast für die Menschen wuchs. Wir müssen dort agieren, wo es Sinn macht und notwendig ist, doch die wirtschaftliche Kirche im sozialen Dorf lassen.
Luxemburger Wort: Stichwort Cargolux. Haben wir hier nicht ein Indiz eines Versagens auch im Bereich Zukunftspolitik?
Jean-Claude Juncker: Die Zeiten sind wohl vorbei, in denen wir Investoren aus unseren direkten Nachbarschaft anziehen. Und es ist nützlich zurückzublicken. Gab es große Begeisterung im Lande, als vor Jahrzehnten amerikanische, japanische Investoren nach Luxemburg kamen? Geht es heute ausschließlich luxemburgischen Betrieben besser? In der Stahlindustrie gab es nie nur luxemburgisches Kapital. Die Welt ist heute wie sie ist. Wir können nicht nur mit europäischem oder gar luxemburgischem Kapital rechnen.
Luxemburger Wort: Und wohin steuert Europa?
Jean-Claude Juncker: Das zu wissen, war nie so schwierig wie heute. Deshalb halte ich mich sowohl mit wirtschaftlichen als auch gesellschaftspolitischen Prognosen zurück. Auch für Luxemburg sollte man sich mit dem Entwerfen eines Zukunftsbildes zurückhalten. Man kann jetzt noch nicht wissen, wie wir in 30 Jahren auf unserem kleinen Territorium zusammenleben werden. Als ich 1982 Staatssekretär wurde, arbeiteten 22.352 Grenzgänger in Luxemburg. Heute ist diese Zahl auf weit über 150.000 angestiegen. Das war vor 30 Jahren nicht absehbar. Die positive Entwicklung der vergangenen 30 Jahre darf man nicht einfach in die nächsten drei Jahrzehnte projizieren. Bezüglich Europa habe ich starke Uberzeugungen, die sich auch noch immer auf die alte, dramatische Fragestellung der Friedenssicherung auf unserem Kontinent berufen. Für junge Generationen mag das kein Thema mehr sein, doch nach wie vor ist nichts weniger selbstverständlich als Frieden. Vor 15 Jahren herrschte noch Krieg auf dem Balkan. Ich merke auch an dieser Krise, wie zerbrechlich die europäische Integration nach wie vor ist. So wie die Welt sich entwickelt und wie die Bedeutung unseres Kontinents dabei progressiv abnimmt, kommt es mehr denn je darauf an, jegliche verfügbare europäische Dynamik in bester Weise zu bündeln und nützen, auch wenn das mit Souveränitätsverzicht in dieser oder jener Hinsicht verbunden ist. Durch die Vielschichtigkeit der Probleme wird es immer schwerer, den Menschen Europa zu erklären, was wiederum zu deren steigender Europamüdigkeit beiträgt.
Luxemburger Wort: Wie ernst wird Luxemburg heute noch als einstiges Gründungsmitglied im Kreis der EU-Entscheidungsträger genommen?
Jean-Claude Juncker: Nun, ich habe nicht den Eindruck, dass Luxemburg einen geringen Einfluss in Anbetracht der heutigen Problemstellungen hat. Ich habe allerdings festgestellt, dass auch bei steigender Mitgliederzahl der Einfluss nicht proportional abnimmt. Dadurch dass wir schon lange dabei sind, sowohl erfolgs- als auch krisenerfahren, gilt unsere Meinung, wobei es uns in schwierigen Diskussionen oft eine gewisse "Unaufgeregtheit" erlaubt.
Luxemburger Wort: Und 2014 werden Sie noch einmal bei den Wahlen antreten?
Jean-Claude Juncker: Wenn ich bis dahin nicht den Eindruck bekommen sollte, dass man mich nicht mehr will - ja, dann werde ich wohl wieder dabei sein.