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Interview von Nicolas Schmit im Luxemburger Wort "Was in Griechenland geschah, ist ein Skandal"
Interview: Luxemburger Wort (Diego Velazquez)
Luxemburger Wort: Herr Schmit, Sie sind ein überzeugter Europäer und werben stets für mehr soziale Rechte. Wie ist es möglich, dass die EU über die Jahre hinweg für viele zum Symbol der neoliberalen Dampfwalze geworden ist?
Nicolas Schmit: Die politischen Anfänge des Neoliberalismus kamen bereits in den 1970er-Jahren mit Margaret Thatcher im Vereinigten Königreich und Ronald Reagan in den USA. Das hatte auch einen Einfluss auf die Politik der EU und der Europäischen Kommission. Die Idee eines Binnenmarktes inspirierte sich an der neoliberalen Doktrin, wonach der Markt die treibende Kraft einer Wirtschaft ist und wonach die Märkte immer Recht haben. In den 1980er-Jahren erkannte der damalige Kommissionspräsident Jacques Delors aber, dass es wichtig war -neben der Liberalisierung der Märkte - auch eine Sozialpolitik zu fördern, damit diese Liberalisierung von einem Dialog mit den Sozialpartnern eingerahmt werden konnte. Das ist allerdings nie wirklich Zustande gekommen. Weder beim Binnenmarkt noch bei der Währungsunion haben wir es erreicht, soziale Dimension und Liberalisierung der Märkte auszubalancieren.
Luxemburger Wort: Die Idee, einen gemeinsamen Binnenmarkt aufzubauen ohne gemeinsame Sozialstandards wirkt demnach grundsätzlich problematisch. Ist das noch zu retten?
Nicolas Schmit: Die römischen Verträge der 1950er-Jahre hatten als Ziel, eine Zollunion für einen Binnenmarkt zu schaffen. Damals glaubte man, es wäre unnötig eine gemeinsame Sozialpolitik für Europa zu schaffen, weil es im Endeffekt nur Gewinne für die sechs Gründungsmitglieder geben werde. Sechs Staaten, die zudem wirtschaftlich gesehen mehr oder weniger gleich entwickelt waren. In dieser Logik war es an den Mitgliedstaaten, diese Gewinne sozial gerecht zu verteilen. So wurde die EU zum Versprechen für Wohlstand. Leider lief das schief, als die Gemeinschaft größer wurde und Staaten aufnahm, die wirtschaftlich sehr unterschiedlich entwickelt waren. Auf einmal hatten wir dann ein Problem.
Luxemburger Wort: Welches?
Nicolas Schmit: Die EU und die Währungsunion fundieren auf der Idee, dass die Märkte sich selbst regeln, solange das Umfeld stimmt. Besonders die Währungsunion war nur für eine Gutwetterlage gedacht. Eine Krise, die es laut neoliberaler Lehre nicht geben konnte, weil das Gleichgewicht sich immer vom selben wieder herstellt, brachte fast den Zusammenbruch des Ganzen mit sich. Da ich aber ein Optimist bin, glaube ich nicht, dass es zu spät ist, den Paradigmawechsel anzupeilen, den die EU jetzt braucht.
Luxemburger Wort: Ist es nicht unmöglich, von einem europäischen Paradigmawechsel in der EU-Sozialpolitik zu träumen, wenn in Griechenland europäischen Abmachungen zuliebe, das Sozialsystem regelrecht abgeschafft wurde?
Nicolas Schmit: Ich bin ein kritischer Europäer und finde nicht immer alles gut, was wir als Europäer machen. Ich sage bewusst „wir", weil die Mitgliedstaaten dazu gehören. Was in Griechenland geschah, ist ein Skandal und zeugt von wirtschaftlichem Irrsinn. Natürlich trugen die griechischen Regierungen auch eine Verantwortung für die fundamentalen finanziellen Probleme des Landes. Aber die Medizin, die man den Griechen verschrieb, wird keine positive Wirkungen zeigen. Im Gegenteil: Sie hat die griechische Gesellschaft über Jahre hinweg zerstört. Das zeigt, dass die Währungsunion ein soziales Standbein braucht.
Luxemburger Wort: Davon ist der Euroraum aber weit entfernt ...
Nicolas Schmit: Das ist bewusst nicht so passiert.
Das Modell der Euro-Rettung fand ja auch jenseits der EU-Verträge statt. Bei der Troika wurde beispielsweise der IWF von außen mit ins Boot genommen. Unsere deutschen Freunde wollten das bewusst so gestalten, damit die EU-Staaten keine Rechte einklagen konnten, die in den EU-Verträgen festgehalten sind. Zu einer solchen Situation darf es nicht mehr kommen. Wir brauchen deswegen eine Reform der Währungsunion, die weitreichend ist. Ansonsten werden die gegenwärtigen Diskussionen um eine soziale Säule der EU nichts wert sein.
Luxemburger Wort: Die gleichen Politiker, die 2015 über Griechenland entschieden haben, sollen nun ein soziales Europa errichten. Wie soll man das abkaufen?
Nicolas Schmit: Ich habe ja nicht behauptet, es gebe eine soziale Währungsunion. Ich sagte nur, wir brauchen ein soziales Standbein für die Währungsunion. Einige nennen das eine Sozialunion und ich weiß, dass dies für manche Politiker in Deutschland ein Tabu ist. Darin liegt auch das Problem.
Aber ohne Stärkung der sozialen Dimension der Währungsunion wird die Akzeptanz der EU bei den Bürgern weiter sinken. Es ist ja logisch: Wenn die Euro-Staaten Vorgaben aus Brüssel in der Wirtschaftspolitik kriegen und keine Kontrolle über ihre Währungspolitik mehr haben, dann macht es ja nur Sinn, eine europäische Sozialpolitik zu haben, da der nationale Spielraum für eine Sozialpolitik stets kleiner wird. Dabei ist unser Sozialmodell ein Wahrzeichen Europas.
Luxemburger Wort: Doch dafür brauchte man eine Transferunion, was für viele als weiteres Tabu gilt ...
Nicolas Schmit: Wir brauchen einen Haushalt für den Euroraum. Natürlich rutscht man somit irgendwann einmal in eine Transferunion. Anders wird unsere Währungsunion aber nicht funktionieren. Dabei gibt es im Euroraum besonders ein Land, das wirtschaftlich sehr stark ist, aber die Last eines wirtschaftlichen Ausgleichs auf die Schwächsten schieben möchte.
Luxemburger Wort: Sie reden etwa von Deutschland?
Nicolas Schmit: Ja. Der Ökonom John Maynard Keynes verstand schon, dass Anpassungen zwischen Staaten mit wirtschaftlichem Überschuss und Staaten im Defizit geteilt werden sollten und nicht allein die Schwachen die ganze Last tragen müssten. Heute müssen sich die Schwachen aber mit Sparmaßnahmen anpassen. Natürlich ist eine Änderung dieser Logik politisch sehr heikel.
Aber man muss den Leuten erklären, worin die Vorteile einer gut funktionierenden Währungsunion liegen. FDP-Chef Lindner kennt diese Vorteile, aber er spricht nicht darüber.
Luxemburger Wort: Frankreichs Emmanuel Macron will „une Europe qui protège", um sich vor unfairem Freihandel zu schützen. Dazu will er eine stärkere Eurozone, mehr Steuern für Multis, Garantien gegen Lohndumping ... Sind Macrons Ideen nicht ein Versuch, die Möglichkeit eines sozialen Europas wiederzubeleben?
Nicolas Schmit: Die Menschen kriegen von Populisten gesagt, dass Europa ein Teil der Globalisierung ist, der Schaden anrichtet. Das glauben auch viele. Deswegen meine ich, dass Macrons Plan, das europäische Modell gegen naiven Freihandel zu schützen, richtig ist. Bei der Hyperglobalisierung entstehen nämlich viele Verlierer und relativ wenige Gewinner. Protektionismus ist nicht der richtige Weg, aber wir müssen unsere Sozial- und Umweltstandards nach außen verteidigen.
Luxemburger Wort: Macron redet nicht bloß über Freihandel, sondern will auch den Euroraum umgestalten. So will er diesen demokratischer machen, etwa durch mehr parlamentarische Kontrolle.
Nicolas Schmit: Ich finde Macrons Ideen weitgehend sinnvoll. Dass bloß Finanzminister sich in der Eurogruppe treffen, muss reformiert werden. Man kann vom ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis halten was man möchte, aber in seinem Buch „Adults in the room", zeigt er sehr gut, dass die Verwaltung der Griechenlandkrise eine institutionelle und demokratische Katastrophe war. Der Euroraum braucht mehr demokratische Kontrolle, das ist das Wichtigste. Ohne einen solchen Schritt, werden immer weniger Leute an dieses System glauben. Ob das durch ein neues Euro-Parlament ist oder durch das EU-Parlament, muss man schauen.
Luxemburger Wort: Leider wirkt Macron in Brüssel etwas isoliert, sobald es konkret wird ...
Nicolas Schmit: Nach den Wahlen in Deutschland wirkt er sogar noch etwas isolierter. Ich bin kein absoluter Macron-Fan, aber ich schätze, dass er Europa zu einer Herzensangelegenheit macht. Genau das braucht die EU jetzt, um wach gerüttelt zu werden. Deswegen hoffe ich auch, dass jene EU-Länder, für die die EU als lebenswichtig gilt, ihn jetzt klarer unterstützen werden ...
Luxemburger Wort: Apropos. Luxemburg spricht sich in Brüssel stets für ein sozialeres Europa aus. Gleichzeitig aber auch für Steuerwettbewerb, der oft zu Exzessen führte, die als ungerecht und unsolidarisch außerhalb des Großherzogtums wahrgenommen wurden. Wie glaubwürdig sind wir da?
Nicolas Schmit: Dazu habe ich eine ganz persönliche Meinung: Ich habe lange an diesen Steuerwettbewerb geglaubt. Zum Teil, weil es uns in den Kram passte und zum Teil, weil ich glaubte, dass gesunder Wettbewerb in ein Gleichgewicht münden würde. Nun beweisen die Fakten, dass das nicht stimmt. Normale Bürger und kleine Betriebe bezahlen ihre Steuern und eine kleine Anzahl extrem wohlhabender Menschen und Multis schaffen es, durch legale Steueroptimierung keine Steuern zu bezahlen. Dieses Modell hat keine Zukunft.
Wir haben dieses Spiel lange mitgemacht. Heute muss es klare Regeln geben, damit jeder Steuern zahlt. Mich stört es, dass wir noch immer mit einer ganzen Reihe von Staaten in den gleichen Topf geworfen werden. Das ist nicht gut.
Deswegen brauchen wir ein anderes wirtschaftliches Modell. Es kann nicht sein, dass ein Land sich wirtschaftlich entwickelt, weil ein obskures Büro einer Steuerverwaltung Regeln appliziert, die keiner kennt.
Diese Regierung hat dieses System relativ brutal gestoppt. Wir müssen hier mit voller Energie weiter daran arbeiten, damit wir nicht weiterhin als ein Schlupfloch für Steuervermeidung wahrgenommen werden.
Luxemburger Wort: Luxemburg bremst weiterhin einige EU-Initiativen gegen Steuerdumping. Sind wir wirklich auf dem richtigen Weg?
Nicolas Schmit: Diese Diskussion muss geführt werden. Wir sind ja nicht absolut gegen eine gewisse Harmonisierung. Natürlich sind wir in einer globalen Wirtschaft und wir brauchen Regeln, bei denen auch Staaten außerhalb Europas mitmachen. Doch haben wir wenig Interesse daran, ein System in Luxemburg zu fördern, bei dem Betriebe keine Steuern zahlen und nur wenige Mitarbeiter in Luxemburg einstellen. Das ist doch nicht ein Modell, von dem die Zukunft von Luxemburg abhängt. Höchstens die Zukunft von einigen Menschen, die in Luxemburg arbeiten, da es Leute gibt, die mit diesem Modell hier Geld verdienen. Hier geht es aber nicht um den Otto-normal-Luxemburger. Deshalb sollten wir uns hier auf vernünftige Art und Weise davon distanzieren. Einiges zu harmonisieren wäre hier sogar im mittelfristigen Interesse Luxemburgs. Folglich muss sich unser Image und unsere Realpolitik noch etwas in diese Richtung bewegen. Denn nur so können wir in der Sozialpolitik glaubwürdig sein.
Es ist ja klar: Mit Steuern bezahlt man Schulen, Krankenhäuser ... kurz: Sozialpolitik.
Luxemburger Wort: Was erwarten Sie sich vom Sozialgipfel in Schweden?
Nicolas Schmit: Ich erwarte mir keine Wunder. Es ist aber positiv, dass Sozialpolitik wieder auf der Agenda der EU ist. Das ist unbestreitbar. Aber aufgepasst! Es darf nicht ein verbales Thema bleiben, bei dem keine konkreten Ansätze folgen werden. Und wir brauchen neue Ideen, um die digitale Wirtschaft sozial mitzugestalten. Im Digitalbereich stellen sich haufenweise Fragen, die europäisch in Angriff genommen werden müssen. Was machen wir mit Über, mit Airbnb usw. Hier brauchen wir gemeinsame Regeln, um Sozialdumping vorzubeugen.