Discours de Lydie Polfer "Der Vertrag von Nizza: eine Vision für Europa oder die hohe Kunst des Kompromisses"

Es gilt das gesprochene Wort

Anrede.

Das Thema meines heutigen Vortrages klingt für manche vielleicht wie eine Herausforderung. Trotzdem, es liegt nicht in meiner Absicht einen weiteren Beitrag zur Polemik über die Ergebnisse des Vertrags von Nizza zu liefern.

Im Gegenteil. Ich möchte eine sowohl kritische wie realistische Analyse der Ergebnisse wagen und die, vielfach etwas polemische Bewertung durch die internationale Presse ergänzen, durch die Sicht des direkt Beteiligten. Eine Klarstellung zu Beginn : Das eher negative Echo in der schreibenden Öffentlichkeit bedrückt mich keinesfalls. Ich möchte hierin vor allem ein Zeichen des Interesses der EU-Bürger für die Zukunft der Union sehen, und ich werte dies als einen bedeutenden Fortschritt.

Stellt der Vertrag von Nizza eine neue Vision für Europa dar oder ist er bloß ein weiteres Beispiel der hohen Kunst des Kompromisses? Die Antwort auf diese Frage, die für manche klar sein mag, muß dennoch vielschichtiger ausfallen.

Es ist unerläßlich, die Entwicklungen, die zum Vertrag von Nizza geführt haben, kurz in Erinnerung zu rufen. In Amsterdam war es der Union nicht gelungen, ihren institutionnellen Aufbau in Hinblick auf die Erweiterung anzupassen. Ziel des Vertrages von Nizza musste demnach in erster Linie sein, die diesbezüglichen Unvollkommenheiten zu beheben.

Willentlich und wissentlich beschränkte sich das Mandat von Nizza auf die drei sogenannten "Leftovers" von Amsterdam : die Größe und die Zusammensetzung der Kommission, die Neugewichtung der Stimmen im Rat, der Übergang von Einstimmigkeit zur qualifizierten Mehrheit, wobei zu bemerken ist, daß anfangs einige Mitgliedstaaten das Element der qualifizierten Mehrheit nicht zur Diskussion stellen wollten.

Ich erwähne dies, da ich der Auffassung bin, daß man den Vertrag von Nizza auch und besonders an jenen Maßstäben und Anforderungen messen sollte, welche dem Auftrag der Regierungskonferenz zu Grunde lagen. Im Laufe der Vorbereitungen und der Verhandlungen wurde die Tagesordnung der Regierungskonferenz durch die Verstärkte Zusammenarbeit bereichert, und dies war begrüßenswert.

Begründet der Vertrag denn jetzt eine neue Vision für Europa?

Für die Schar der Kritiker lautet die Antwort anscheinend: nein.

Sofort möchte ich einwenden, daß dies ja nicht dem anfänglichen Ziel entspricht, nämlich dem, die Erweiterung zu ermöglichen.

Diesem hohen Ziel wird der Vertrag von Nizza gerecht.

In den Kandidatenstaaten blieb dies auch keinesfalls unbemerkt. Sie sehen im Vertrag ein klares Signal der Bereitschaft der EU sich unwiderruflich erweitern zu wollen und begrüssen diese Entwicklung.

Ich behaupte, obwohl der Vertrag von Nizza keine neue Vision für der Union bietet, so erfüllt er dennoch eine weitaus wichtigere Mission. Er erlaubt es jene Vision, die bei den Europäischen Räten von Luxemburg und Helsinki verkündet wurde, die Wiedervereinigung unseres Kontinentes, nach mehr als fünfzigjährigen Trennung zu ermöglichen und in die Praxis umzusetzen. In Nizza haben wir die Grundlagen gelegt, um die - wie dies vor einigen Tagen der bulgarische Präsident Stojanov in Luxemburg ausdrückte - widernatürliche Teilung von Yalta aufzuheben. In diesem Sinne, weniger Vision aber dafür konkrete Umsetzung der Vision der Erweiterung.

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Als Instrument steht der Vertrag von Nizza im Dienste dieser hohen Ambition. Gewiß bringt er sie nicht so klar und eindeutig zum Ausdruck, wie dies vorhergehenden Verträge für die Vertiefung der Union durch die Definition neuer Kompetenzbereiche getan haben.

Der Vergleich mit der Einheitlichen Akte oder mit den Verträgen von Maastricht und Amsterdam fällt jedoch für den Vertrag von Nizza nur dann ungünstig aus, wenn man diesen Tatbestand der jetzt erst möglichen Wiedervereinigung Europas aus den Augen verliert.

Wir wissen : der Vertrag von Nizza ist in seiner Grundstruktur zuerst von institutionneller und prozeduraler Natur. Er umfaßt kaum neue Kompetenzenübertragungen an die Union; er widmet sich kaum der Substanz der europäischen Politik, mit der Ausnahme einiger Bestimmungen der Gemeinsamen europäischen Sicherheitspolitik, wie sie seit dem Europäischen Rat von Köln erarbeitet wurde.

Gestatten Sie mir jedoch sofort klarzustellen, daß die vorhergehenden Verträge bereits zahlreiche Kompetenzen an die Union übertragen haben. Die in den kommenden Jahren zu führende Debatte über die Zukunft Europas und die Kompetenzaufteilungen wird möglicherweise weitere Klarstellungen bringen müssen. Wobei diese Debatte auch zu Rückführung von Kompetenzen in den nationalen Rahmen führen könnte, sollte sich dies in verschiedenen Fällen als effizienter erweisen, aber dies sollte nur eine Bemerkung am Rande sein.

Wir sollten uns auch darüber im Klaren darüber bleiben, dass ein Überführen Auslagerung aus dem Einstimmigkeitsverfahren in das der Qualifizierten Mehrheit als solches keine neue Übertragung von Kompetenzen an die Union bedeutet. Die Einstimmigkeitsregel bedeutet nicht, daß Kompetenzen nicht schon übertragen wurden oder dass dies in Zukunft nicht der Fall sein kann.

Andererseits stellt sich auch die Frage ob jeglicher Fortschritt in der Union immer neue Kompetenzübertragung braucht. Als Illustration möchte ich die bemerkenswerten Veränderungen, die seit zwei Jahren in der Ausrichtung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik vorgenommen werden anführen. Auch stellt sich die Frage ob die tatsächlichen Fortschritte in den Gemeinschaftsbereichen, wie z.B. in den Prozessen von Luxemburg, Cardiff oder Lissabon, immer einen Niederschlag in den Verträgen finden müssen.

Aufgabe für Nizza war die "Leftovers" von Amsterdam zu beseitigen um die große Ambition der Erweiterung zu ermöglichen.

Weshalb wurde dennoch die Tagesordnung erweitert?

Dafür sehe ich zwei Gründe.

1)Zunächst ist es offenbar, daß der Einfluss der Erweiterung auf die Institutionen und die Entscheidungsgestaltung in der Union weit über die Überbleibsel von Amsterdam gehen. So galt es auch über die anderen Institutionen der Union zu befinden, insbesondere was die Größe und die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments betrifft. Artikel 7 des neuen Vertrags setzt einen Frühwarnemechanismus im Bereich der Grundrechte ein. Dies sollte ermöglichen, den Befürchtungen über extremistische Gefahren in der Union zu begegnen und auch, mit Blick auf die jungen Demokratien, die berufen sind der Union beizutreten, ein klares Signal zu setzen. Die Flexibilisierung bei der Verstärkten Zusammenarbeiten wird der europäischen Integration weitere Fortschritte ermöglichen, insbesondere wenn in einem erweiterten und vielfältigeren Europa alle Mitgliedstaaten nicht im gleichen Takt in allen Bereichen vorangehen können oder wollen.

2)Was ich eben über die verstärkten Zusammenarbeiten gesagt habe gibt mir Anlaß, den zweiten Grund für die erweiterte Tagesordnung der Regierungskonferenz zu erläutern. Wir wollten uns und der Öffentlichkeit - den Bürgern Europas - Zusicherungen geben, daß die Erweiterung nicht auf Kosten einer weiteren Vertiefung der Union gehen wird.

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Für alle derzeitigen Mitgliedstaaten wird der Beitritt neuer Mitgliedstaaten einen relativen Gewichtsverlust in den Institutionen und bei den Entscheidungsmechanismen bedeuten. Eine erweiterte Tagesordnung, die über die drei Überbleibsel von Amsterdam ging, ist demnach auch ein Zeichen dafür, daß selbst in Zukunft, für jene die es wünschen und auch bewerkstelligen können, ein Mehr an Integration möglich bleibt.

Kommen wir zum zweiten Teil der Aussage: Nizza ein Kompromiss, vielleicht sogar kein schlechter?

Es scheint manchmal, daß seit dem Rat von Nizza der Ausdruck Kompromiss eine negative Färbung angenommen hat. Sollte es etwa unehrenhaft geworden sein, Kompromisse zu schliessen? Wollten wir in der Union, wollten wir an dem Verhandlungstisch an dem die Einheit Europas wieder ermöglicht wurde Sieger oder Besiegte sehen? Ich hoffe die Frage beantwortrt sich von allein.

Selbstverständlich stellt Nizza einen Kompromiss dar und das ist auch gut so.

Die Geschichte der friedlichen Einigung Europas ist die Folge einer langen Reihe von Kompromissen von denen manche wenigstens so schwierig zu erzielen waren, wie die Vereinbarungen in Nizza. Das angestrebte Resultat beinhaltet natürlich auch, daß jeder irgendwo nachgeben musste, keiner auf der ganzen Linie Gewinner sein konnte: dies liegt in der Natur von Kompromissen und kann auch nie anders sein. Hauptsache ist, dass es ein ausgewogener Kompromiss ist, den jeder mittragen kann und in dem er sich wiederfindet weil er am Zustandekommen mitgewirkt hat.

Hätte man einen ehrgeizigeren Kompromiß finden können? Ich bin mir dessen nicht ganz sicher. Aus der Sicht des direkt Beteiligten kann ich bestätigen, dass wir in der Regierungskonferenz keinesfalls hinter den Möglichkeiten zurückgeblieben sind. Alle Mitgliedstaaten verfügen über eine Öffentlichkeit, alle haben ein Parlament, das den Vertrag ratifizieren muß und die Verhandlungsführer waren während der Regierungskonferenz bestrebt die weitere Einigung Europas soweit voranzutreiben, wie dies auch bei ihren Bevölkerungen auf Zustimmung stößt.

Durch die Perspektive der anstehenden Erweiterung wurde in Nizza vorrangig über eine neue Verteilung, nicht so sehr der Befugnisse und der Kompetenzen, als des relativen Gewichts eines jeden Mitgliedstaates in den Institutionen und bei der Entscheidungsfindung gerungen. Keiner der Teilnehmer konnte es sich leisten, geschlagen nach Hause zurückzukehren. Die Interessen eines jeden Einzelnen mußten berücksichtigt werden und wenn Opfer gebracht werden sollten, mußten sie im gleichen Maße von jedem getragen werden.

Dies ist auch geschehen.

Zwei Fragen wurden in den Kommentare vor und nach Nizza immer wieder beleuchtet : die mögliche Abkoppelung Deutschlands von den anderen Großen aufgrund demographischer Erwägungen und der wirkliche oder imaginäre Interessenkonflikt zwischen großen und kleinen Mitgliedstaaten.

Ich beabsichtige nicht mich heute mit der ersten dieser Fragen zu befassen.
Was die zweite betrifft, würde ich gerne ein Paar Worte dazu sagen.

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Die Einteilung in große und kleine Mitgliedstaaten mit grundverschiedener Interessenlage ist mir immer äußerst künstlich erschienen. Sie entspricht keiner bestehenden politischen Gleichung. Die politischen Interessen und die Standpunkte der Mitgliedstaaten beruhen seit Gründung der Gemeinschaft auf ihrer Geographie, ihrer Wirtschaftstruktur, ihrem Entwicklungsstand und ihren politischen und kulturellen Traditionen.

So künstlich diese Bruchlinie auch immer gewesen sein mag, sie hat trotz allem während der Regierungskonferenz einen gewissen Grad an Realität angenommen.

Die Diskussionsgrundlage in dieser Frage ist vielleicht nur teilweise oder ungeschickt präsentiert worden.

Zwei Befürchtungen wurden, wenigstens in der Öffentlichkeit, offenkundig: die Grossen befürchteten die Möglichkeit bei Abstimmung durch die kleinen Mitgliedstaaten in die Minderheit versetzt zu werden. Als Beispiel möchte ich hier nur das Los anführen, das den Kommisssionsvorschlag der "Doppelten Einfachen Mehrheit" ereilte. Javier Solana hat ihm entgegengehalten, dass in einer Union mit 27 Mitgliedern, die 16 kleinsten Staaten mit einem Bevölkerungsanteil von nur 12% über eine Sperrminorität verfügen würden. Wir können uns zwar jetzt die Frage stellen, weshalb und in welcher Absicht alle Kleinen sich gegen alle Grosen verbünden sollten? Tatsache ist : die Rechnung hat Eingang in die Überlegungen gefunden.

Die Kleinen ihrerseits hatten Angst im Entscheidungsprozeß marginalisiert zu werden. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, daß die Kommentatoren diesen Aspekt der Verhandlungen von Nizza immer wieder hervorgestrichen haben: er beflügelt zum einen die Vorstellung der Beobachter, zum anderen war zugegebenermaßen der Einsatz von manchmal lebhaften Verhandlungen.

Letztlich hat sich in Nizza im Bereich der Stimmengewichtung ein Konsens herausgeschält, der den unterschiedlichsten Überlegungen Rechnung trägt. So bleibt das historische Gleichgewicht zwischen Deutschland und Frankreich bei der Stimmenanzahl im Rat gewahrt; der Verlust eines zweiten Kommissars wird kompensiert und nicht zuletzt das besondere spanische Problem "als grosser Partner in der Union" gelöst.

Obwohl es anfänglich darum ging zu wissen ob der Verlust eines zweiten Kommissars seitens der großen Mitgliedstaaten durch eine Neugewichtung oder durch die Einführung einer doppelten Mehrheit ausgeglichen werden sollte, haben sich die Diskussionen fast unmerklich im Nachhinein auf eine andere Ebene verschoben. So haben demographische Erwägungen letztlich eine wenigstens genau so wichtigen Rolle gespielt.

Den kleineren und mittleren Mitgliedstaaten ging es auch darum zu bewahren, was zur Zeit nur implizit im Vertrag verankert ist, nämlich, daß eine qualifizierte Mehrheit auch immer einer Mehrzahl von Mitgliedstaaten entspricht. Deutschland wünschte außerdem, daß seine Bevölkerungsstärke in einer demographischen Überprüfungsklausel berücksichtigt werden sollte, wenn dies schon nicht Eingang in die Stimmenzahl für die qualifizierte Mehrheit finden sollte. Mein Land hatte sich immer für die Option der doppelten Mehrheit, zusammengesetzt aus einer Mehrheit von Mitgliedstaaten und einer Mehrheit der Bevölkerung, mit einer Schwelle von etwa 60% eingesetzt. Diese Lösung wäre einfach, transparent und für den Bürger leicht zu verstehen gewesen.

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Kann das Endergebnis von Nizza als idealer Kompromiss bezeichnet werden? Neben dem Anheben der Schwelle für qualifizierte Mehrheiten sieht der Vertrag als zweites Kriterium eine demographische Schwelle von wenigstens 62% der Bevölkerung der Union und drittens eine numerische Schwelle von wenigstens der Hälfte der Mitgliedstaaten für die Annahme von Entscheidungen durch qualifizierte Mehrheit vor. Um sicher zu stellen, dass eine Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit gefällt wurde, müssen demnach in Zukunft diese 3 Kriterien, Mindeststimmenzahl, Mindestbevölkerungsanteil und Mehrheit der Mitgliedsländer erfüllt sein.

Die Komplexität des neuen Entscheidungsverfahren bildet sicherlich dessen Schwachpunkt.

Sein unbestrittener Vorteil : es bewahrt und bestätigt die doppelte Natur der EU: eine Union der Staaten und eine Union der Völker; ein Prinzip, an dem die österreichische Regierung während der Verhandlungen ebenso festhielt wie die Luxemburger.

Die Befürchtung der kleineren und mittleren Mitgliedstaaten vor einem Direktorium der Großen fußt nicht unwesentlich auf deren Stellungnahmen in Bezug auf Umfang und Zusammensetzung der Kommission. In der Tat waren die kleineren Mitgliedstaaten besorgt, dass eine Kommission in der nicht mehr alle nationalen Sensibilitäten vertreten wären, sich bei schwierige Entscheidungen einem Rat ausgeliefert sehen könnte, in dem die Großen aufgrund ihres Gewichtes das Sagen hätten.

Es ging also nicht nur um das jeweilige Gewicht der Mitgliedstaaten im Entwicklungsprozeß, sondern auch um die Beibehaltung des institutionnellen Gleichgewichts, inbesondere was die Rolle der Kommission als Hüterin des Gemeinschaftsinteresse und Ort des Ausgleichs betrifft.

Die Lösung, die letztlich in Bezug auf Umfang und Zusammensetzung der Kommission getroffen wurde, ist bekannt. Ab 2005, ein Kommissar pro Mitgliedstaat. Ab siebenundzwanzig Mitglieder soll eine Entscheidung über die Zahl der Kommissare getroffen werden. Dies ist ein Kompromiß zwischen zwei Erwägungen: die Legitimität der Kommission und deren Effizienz, wohlwissend, daß beide Aspekte miteinander verbunden sind. Die Stärkung der Rolle des Präsidenten, müßte bis zum Zeitpunkt an dem die EU siebenundzwanzig Mitglieder hat, die Diskussion in der Schwebe halten und für den notwendigen Ausgleich sorgen.

Dem Vertrag von Nizza wird vorgeworfen, zu wenig Fortschritten beim Übergang zur qualifizierten Mehrheit geführt zu haben. Der Vorwurf gründet auf der Angst, das als schwerfällig angesehene Einstimmigkeitsverfahren würde in einem erweiterten Europa Entscheidungen höchst schwierig gestalten.

Gewiß hätte man in einigen Bereichen weiter gehen können. Konkrete Vorschläge lagen auf dem Tisch besonders im Bereich der Gemeinsamen Handelspolitik, der Justiz und der Inneren Angelegenheiten,auch in Steuerfragen oder im Bereich der Sozialen Sicherheit, ein Bereich der integral im Einstimmigkeitverfahren bleibt. Mein Land war generell zu einer Ausweitung der Mehrheitsbeschlüsse bereit, auch in solchen Bereichen die für uns traditionell sehr empfindlich sind.

Dies ist nicht geschehen; aber jeweils aus sehr unterschiedlichen und auch leicht verständlichen Gründen.

Dennoch kann man wirkliche Fortschritte verbuchen; so begrenzt sie auch manchem erscheinen mögen. So sah der Vertrag von Amsterdam nicht weniger als 75 Bereiche vor, die der Einstimmigkeit unterliegen; einige davon konstitutioneller Natur, die eine Ratifizierung durch unsere Parlamente erfordern und deshalb in der Praxis nicht mit Mehrheit zu entscheiden sind. In etwa dreißig neuen Bereichen werden nunmehr Entscheidungen durch qualifizierte Mehrheit getroffen. Dies gilt unter anderem nicht zuletzt für die Bestellung des Präsidenten der Kommission und des Hohen Vertreters für die Gemeinsame Aussenpolitik, sowie unter anderem für eine Reihe von Bestimmungen im Bereich der Handelspolitik, der Visa, Asyl- und Immigrationsfragen und ab 2007 ebenfalls im Bereich der Struktur und Kohäsionsfonds . All dies zeugt von der Kraft des Trends der durch die Einheitliche Akte ausgelöst wurde und der seither nichts an Dynamik eingebüsst hat. Aber, knapp drei Jahre nach Amsterdam empfanden die Mitgliedstaaten, daß man mehr von ihnen nicht verlangen konnte.

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Manche europäische Abgeordnete haben das erzielte Ergebnis als lauwarm abgetan und zeigen sich enttäuscht. Diese Enttäuschung wird durch die ihrer Meinung nach zu bescheidenen Fortschritte beim Mitentscheidungsverfahren noch verstärkt.

Der Vertrag von Amsterdam hatte auf diesem Gebiet einen echten Durchbruch erreicht. Der Vertrag von Nizza erweitert den Anwendungsbereich der Mitentscheidung auf die meisten Bereiche wo auch der Übergang zur qualifizierter Mehrheit vorgesehen ist. Er geht allerdings nicht darüber hinaus, wie dies das Europäische Parlament gewünscht hatte.

A propos Europäisches Parlament: ich bin überzeugt, daß die Entscheidung was seine Größe und seine Zusammensetzung anbelangt vernünftig ist. Die Erhöhung der Höchstgrenze der Mitgliederzahl ist, alles in allem, sehr bescheiden in Anbetracht des substantiellen Anwachsens der Bevölkerung der EU nach der Erweiterung. Sichergestellt werden mußte, daß die Bevölkerung der verschiedenen Mitgliedstaaten weiterhin in ihrer ganzen politischen Vielfalt im Parlament vertreten bleibt. Für mein Land etwa war es unerläßlich, daß die Zahl der Abgeordneten unverändert blieb um eine tatsächliche Vertretung aller politischen Sensibilitäten zu ermöglichen. In unseren Augen geht es nicht an, dass in der Bürgervertretung massgebliche Teile der Wählerschaft nicht vertreten sein sollten.

Die Zusammensetzung der anderen Institutionen und Organe, welche im neuen Vertrag vorgesehen ist, zeugt davon, in welchem Maße diese Legitimitätserwägungen von vielen Mitgliedstaaten implizit geführt werden.

Während und nach der Regierungskonferenz hörten wir viele Klagen wegen der angeblichen Übergröße verschiedener Institutionen und Organen. Dies würde ihrer Effizienz schaden, hieß es.

Ich möchte kurz auf diese Aussagen eingehen. Ich glaube nicht, daß man der Legitimität das Prinzip der Effizienz entgegenstellen sollte, oder, daß es notwendig wäre, zwischen beiden zu wählen.

Der Bürger wird nur dann Entscheidungen der EU akzeptieren, wenn er überzeugt ist, daß diese auch von Vertretern die er direkt oder indirekt gewählt hat und die er dadurch kontrollieren kann, getroffen wurden. Die Wirksamkeit der EU hängt in meinen Augen wesentlich von der Wahrung der Legitimität ihrer Institutionen und der daraus folgenden Akzeptanz der Entscheidungen ab.

Wie Sie merken, habe ich meine Ausführungen darauf zugeschnitten die häufigsten Vorwürfe an den Vertrag von Nizza zu entschärfen. Ich möchte jedoch auch darauf verweisen, dass etliche Fortschritte von außenstehenden Kommentatoren kaum erwähnt wurden.

Ich denke besonders an die Flexibilisierung der Bedingungen für die Verstärkte Zusammenarbeit. Dieses Instrument, das heute noch vielen wie Zukunftsmusik erscheint mag, wird möglicherweise erst nach der Erweiterung sein volles Potential zeigen. Die unterschiedlichen Entwicklungslagen und Möglichkeiten in der erweiterten Union machten es wünschenswert, die Möglichkeit offen zu halten, daß eine Gruppe von Mitgliedstaaten den Integrationsprozeß dort vorantreibt wo andere noch nicht mitmachen können oder wollen.

Die Reform des Europäischen Gerichtshofs und des Tribunals erster Instanz ermöglicht diesen zentralen Institutionen die Herausforderung der Erweiterung anzunehmen mit dem Mehr an Arbeit, das damit verbunden ist zu begegnen.

Ich möchte hier innehalten. Die vollständige Exegese des Vertragstextes wird sicherlich anderswo gemacht. Es bleibt meine Überzeugung, daß die Geschichte dem Vertrag seinen wirklichen Stellenwert zuerkennen wird. Ziel war es den institutionellen Rahmen zu schaffen, um die Erweiterung zu ermöglichen. Dieses Ziel wurde erreicht. Wir verwirklichen damit einen Traum, an den noch vor einem guten Jahrzehnt nur wenige zu glauben hofften. Diese Vision ist wahr geworden, seit Nizza gehört die Einheit unseres Kontinents nicht mehr in das Reich des Virtuellen, sie kann jetzt Wirklichkeit werden. In einem Wort: Nizza ist keine Vision, sondern ein Instrument zur Verwirklichung einer Vision.

Klar ist auch, daß der europäische Integrationsprozeß mit Nizza nicht am Ende ist. Die Erklärung über die Zukunft Europas zeichnet weitere Entwicklungen auf. Dies ist letztlich nicht das geringste Verdienst des Vertrages von Nizza.

Eine neue Regierungskonferenz wird 2004 einberufen. Auf ihrer Tagesordnung stehen unter anderem - und ich unterstreiche "unter anderem" - die Verteilung der Kompetenzen in der Union, die Aufnahme der Grundrechtscharta in die Verträge, die Vereinfachung der Verträge, die Rolle der nationalen Parlamente im europäischen Gefüge.

Die ausgelöste Debatte ist konstitutionneller Art. Sie wird klarere Umrisse erhalten durch die Arbeiten des Europäischen Rates in Laeken Ende dieses Jahres.

Präsident Prodi hat vor kurzem gesagt, daß sich die EU eine andauernde institutionnelle Baustelle nicht leisten könne. Ich gebe ihm recht, denke aber dabei, daß auch nach 2004 die Optionen für weitere Entwicklungen aufrecht erhalten bleiben sollten.

Dem europäischen Bürger sind wir eine Erklärung schuldig über den Weg, den die Europäische Union einschlägt.

Die Debatte ist jedenfalls eröffnet. Dies ist ein wesentlicher Schritt; es gilt jetzt das Mitwirken der Bürger zu sichern, denn dies ist entscheidend für den Erfolg.

Man sollte die Debatte deshalb so ausrichten, daß jeder Einzelne sich mit dem Vorhaben identifizieren kann.

Es wurde auch behauptet, daß die Verhandlungsmethode in Nizza nicht mehr zeitgemäß war. Das mag durchaus möglich sein. Zugegeben, die Mitwirkung wie die Kommunikation bei der Verhandlungen von Nizza waren verbesserungsfähig. Bei der nächsten Regierungskonferenz kann man in der Vorbereitungsphase auf andere Mittel zurückgreifen, wie z.B. eine breite öffentliche Debatte, einen intensiveren Dialog mit den nationalen Parlamenten sowie zwischen den Institutionen, oder gar ein Konvent.

Dies heißt allerdings nicht, daß auf eine klassische Regierungskonferenz verzichtet werden kann, sogar wenn diese kurz und schlüssig wäre und erst am Ende des Prozesses erfolgen würde. Selbst aus einer föderalistischen Perspektive für das Europa von morgen, dürfte sich daran nichts ändern: die Mitgliedstaaten bleiben die verfassungsmäßigen Grundträger wie in jedem föderalen System.

Sie haben mich gebeten auf die Frage: "der Vertrag von Nizza : Vision oder Kompromiss" zu antworten.

Ja, Nizza ist ein Kompromiss, Gott sei Dank. Ich möchte nicht an einer Union mitwirken, die nicht vorrangig darauf ausgerichtet ist Entscheidungen durch Kompromisse zu fällen. Die Geschichte lehrt uns, dass dies auf lange Sicht bessere Entscheidungen sind als solche, die Sieger und Besiegte (und leide all zu oft auch Trümmerhaufen) hinterlassen.

Ich sehe Nizza vor allem als das Instrument, das uns ermöglicht eine Vision zu verwirklichen, die der Einheit unseres Kontinents in Frieden und Freiheit. Dabei bleiben alle Möglichkeiten für eine schrittweise Vertiefung oder eine Konstitutionalisierung der Union offen. Es ist daher ein Vertrag, dem ich gerne meine Zustimmung gebe.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

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