Discours du Premier ministre, Docteur honoris causa de la Faculté de Philosophie de l'Université de Münster: "Europa - eine Architektur und ihre Folgen"

Rede von Premierminister Jean-Claude Juncker
anlässlich der Überreichung der Ehrendoktorwürde
der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
am 6. Juli 2001

Textfassung der frei gehaltenen Rede

Herr Staatssekretär, Herr Botschafter, meine sehr verehrten Damen und Herren,

Ich darf mich für die mir zuteil gewordene Ehrung herzlich bedanken. Ich habe mich oft gefragt, was das eigentlich ist, ein Ehrendoktor. Beim Zuhören über die Breite, die Fülle, die Dichte dessen, was erforscht und erlernt wurde von denen, die heute richtige Doktoren geworden sind, habe ich festgestellt, dass ein Ehrendoktor eigentlich nichts ist angesichts dessen, was ein richtiger Doktor sein kann. Jene, denen diese Ehre heute hier zuteil geworden ist, sind richtige Doktoren und es hat mich sehr beeindruckt festzustellen, wie viel man eigentlich erforschen kann. Wenn die Politik sich in all diesen Verästelungen ergehen müsste in die die Forschung sehr oft vordringt, dann wäre der 24-Stundentag jedenfalls erweiterungsbedürftig.

Ich hätte ganz gerne, dass die, die Doktorinnen und Doktoren geworden sind, diese Feier nicht dadurch in Erinnerung behalten, dass ich Ehrendoktor geworden bin. Ich möchte jedenfalls sagen, dass ich diese Feier in Erinnerung behalte, weil die anderen Doktorinnen und Doktoren geworden sind. Ich glaube sie stehen im Mittelpunkt dieser Veranstaltung und nicht derjenige, der Ehrendoktor wurde.

Fast genauso hat mich die Laudatio beeindruckt, weil der Laudator dem zu Ehrenden erkennbar wohlwollend gesonnen ist. Besonders das, was Sie in punkto Bildungspolitik und möglichen Einfluss, den ich in Europa ausübe, vorgetragen haben, war von besonderem Wohlwollen gekennzeichnet.

Es gibt eine tiefe Kluft zwischen der akademischen Welt, der studierenden Welt, der forschenden Welt, der lehrenden Welt und der manchmal leeren Welt der Politik. Wenn ich über Europa reden würde wie sie über Europa reden und schreiben, dann wäre das hier von keinem Nützen. Also rede ich über Europa so, wie ich Europa als politisch Handelnder sehe. Das macht erstens die Kluft deutlich und zweitens lässt sie sich dann auch besser schließen. Wenn jeder in seinem Elfenbeinturm sitzen und hocken bleibt, dann kommen wir nie, Politik und Wissenschaft, miteinander in Verbindung.

Sie haben in ihrer Laudatio viel über Architektur geredet, weil Sie sich mit diesem spannenden Thema zwischen großen und kleinen Staaten in der Europäischen Union beschäftigt haben. Dies hat wesentlich mit der Architektur auf einem komplizierten Kontinent zu tun. Wer einem komplizierten Kontinent eine Architektur gibt, der kann nicht einfach zeichnen, weil dem ja ein komplizierter Denkvorgang zugrunde liegt. Mit dem Reden ist das dann noch schwieriger. Viele reden kompliziert und denken einfach. Richtig wäre jedoch, man würde kompliziert denken und einfach reden.

Zu der Grundarchitektur der Europäischen Union, überhaupt der europäischen Integration, gehören das Mit- und Füreinander, nicht das Nebeneinander, von Groß und Klein. Und doch wo Luxemburg ein Großherzogtum ist, also per definitionem kein kleines Land, haben wir seit wir zum ersten Mal den Blick über den Rand der Kindeswiege hinaus gewagt haben, festgestellt, dass es andere gibt, die größer sind als wir. Es gibt eigentlich für ein Großherzogtum kaum einen Kleineren, aber für einen Großen immer einen Größeren. Insofern ist dies ein Forschungsgegenstand der politischen Relativitätstheorie zu dem ich zukünftige Doktoranten eigentlich nur inspirieren möchte.

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Aber dieses Miteinander von Groß und Klein hat etwas zustande gebracht, womit weder die Grossen - weil sie es nicht konnten - noch die Kleinen - weil sie es nicht durften - jemals rechnen konnten, nämlich, dass die Europäische Union, die europäische Integration, uns durch das „Miteinandergehenwollen“ europäischer Staaten auf unserem Kontinent dauerhaften Frieden gebracht hat. Dies ist nicht das Verdienst der Generation der jetzt geehrten Ehrendoktoren, sondern ihrer Vorgänger, und nicht nur ihrer Vorgänger in der Politik sondern ihrer Vorgänger im richtigen Leben. Das grosse Verdienst an der europäischen dauerhaften Friedensordnung kommt der Kriegsgeneration zu, die zum ersten Mal mit dem Satz ernst gemacht hat, der an jedem Kriegsende gesagt wird: Nie wieder Krieg!

Weil der europäische Kontinent so kompliziert ist, ist die Architektur auch dementsprechend. Deshalb sagen wir ja auch, Europa sei eine Konstruktion "sui generis". Die Architektur, die wir haben, ist nicht optimal, aber das, was wir aus dieser Architektur herausnehmen, kann optimiert werden. Wir müssen die bestehende Architektur maximal ausnützen, das zu einem guten Ende führen, was wir machen dürfen, das was wir machen sollten und das, was wir gemeinsam gestalten müssten. Sehr oft wird in Europa, anstatt über Politik und über politische Inhalte zu reden, nur über architektonische Spekulationen geredet. Viele große Reden zum Thema Europa beschäftigen sich mit dem Zustand und dem Erwachsenwerden europäischer Institutionen. In kaum einer Rede wird die Frage gestellt: Was machen wir eigentlich mit diesen Institutionen? Gedankengebäude ohne Gedanken sind keine zielführende Architektur. Dies ist etwas fürs Auge, für das akademische Auge. Dies ist kein Handwerksgeschirr für den politisch Handelnden und auch kein Element, um zukünftige Horizonte zu schaffen für die, die eigentlich Nutznießer der europäischen Politik sein sollten.

Anstatt darüber zu spekulieren, ob wir aus dem Europäischen Rat eine zweite Kammer eines in seinen Kompetenzen besser auszustattenden Europäischen Parlamentes machen sollten, anstatt darüber nachzudenken, ob das Europäische Parlament auch Rechte auf der steuerlichen Einnahmenseite haben könnte, sollten wir darüber nachdenken, was wir eigentlich mit diesen europäischen Steuern an konkreter Politik gestalten wollen? Was wollen wir eigentlich den Menschen als politisches Angebot mit auf den Weg geben? Niemand kommt ins Träumen, wenn wir europäische Regierungschefs uns zähnefletschend um einen Tisch herum versammeln und die spannende Frage diskutieren, ob jedes Land einen Kommissar haben soll und die grossen EU-Staaten zwei Kommissare. Ich glaube nicht, dass die Frage die Menschen umtreibt, ob es richtig oder falsch ist, dass im Zentralrat der Europäischen Zentralbank jedes Land vertreten ist, oder ob nur die Großen dort vertreten sein sollten. Nein, das ist kein Thema, das die Menschen umtreibt. Was die Menschen umtreibt ist, was die Europäische Union an konkreter Politik in die Wege leiten kann. Gerade dort haben wir alle Mittel, alle Instrumente die wir brauchen, aber die Ansprüche, die mit diesen Mitteln bewegt werden sollen, haben wir eigentlich nicht. Sehr oft denkt man, man müsse den Ambitionen die man hat, die notwendigen Mittel und Instrumente in die Hand geben. In Europa ist es genau umgekehrt. Insofern ist das Thema nicht „institutionelle Reform“, sondern die Zielsetzung und die Finalität der Europäischen Union.

Es gibt einen Bereich europäischer Politik, wo wir uns als Europäische Union so benehmen, wie sich früher Nationalstaaten benommen haben, zu den Zeiten als es noch so etwas wie nationale Ökonomie gab. Das ist der Bereich der Währungspolitik. Dort wird die Geldpolitik einheitlich geführt von der Europäischen Zentralbank in Frankfurt, und die europäische Wirtschaftspolitik, der korrespondierende Teil des sogenannten „policy mix“, wird in fünfzehnfacher staatlicher Ausstattung geführt.

Der Vertrag besagt, Geldpolitik sei einheitlich. Die Wirtschaftspolitik ist im gemeinsamen Interesse aber in nationaler Verantwortung. Daher die Notwendigkeit der Koordinierung der Wirtschaftspolitik das Wort zu reden, ausgehend von dem in Deutschland sehr oft falsch verstandenen Ausdruck des damaligen französischen Finanzministers Berégovoy, des „gouvernement économique“, der Wirtschaftsregierung. Herr Jospin benutzt diesen Ausdruck auch heute noch, meint aber nicht mehr dasselbe damit wie Herr Berégovoy in den Sturm- und Drangzeiten des französischen Sich-Einbringens in eine europäische Währungsordnung.

Genau diese Koordinierung der Wirtschaftspolitik funktioniert nicht. Wir müssen reden über nationale Steuerpolitik, über nationale Haushaltspolitik, über die Abstimmung zwischen beiden Aggregaten im Verhältnis zu dem, was in den anderen Staaten der Eurozone diesbezüglich an Politik angeboten wird. Wir müssen reden über europäische Strukturpolitik und über europäische Lohnpolitik, über europäische Strukturpolitik und diesbezügliche Reformen, weil heute ein Teil der perspektivischen Euroschwäche unter antizipierter Form dadurch feststellbar ist, dass niemand in der Welt den Europäern eigentlich zutraut, ihre eminent wichtigen Strukturprobleme in den Griff zu kriegen, vornehmlich im Bereich der Altersversorgungssysteme, von denen weltweit gemutmaßt wird, dass diese Systeme in sich selbst zusammenfallen werden. Dort ist ein großer europäischer Reformbedarf angesagt.

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Es ist falsch zu denken, die Geldpolitik könne das in Ordnung bringen, was die Struktur- und Wirtschaftspolitik nicht mal in die Hand nimmt. Wir brauchen einen stärkeren wirtschaftspolitischen Zuschnitt europäischen Denkens. Der ist zwar in den Anfängen erkennbar und in den Grundrissen einsehbar, aber diese Politik wird nicht dezidiert genug in Angriff genommen.

Wir reden von Koordinierung und machen sehr oft genau das Gegenteil. Zu den Treppenwitzen jüngster koordinierter europäischer Finanzpolitik gehört, dass mittwochs eine Regierung, die den Vorsitz der Europäischen Union innehatte, angesichts der Ölkrise des letzten Jahres ihre Konsumsteuer abgesenkt hat und samstags, als Vorsitzender der europäischen Finanzminister, die andern vierzehn Finanzminister aufgefordert hat, genau dies nicht zu tun, weil dies der falsche Weg wäre. In der Koordinierung der Wirtschaftspolitik müssen die Prozesse gestrafft werden, vor allem, was europäische Lohnpolitik anbelangt. Das lohnpolitische Aggregat ist um ein Erhebliches umfangreicher als das haushaltspolitische, doch wir konzentrieren uns total auf das Haushaltsaggregat und unterschätzen die makroökonomische Bedeutung des lohnpolitischen Volumens, das Europa tagtäglich bewegt.

Wer Europa eine stärkere Visibilität nach außen geben möchte, kann auch im Bereich der Währungspolitik erste Schritte einleiten. Fast niemand weiß, dass die Staaten der Eurozone der größte Aktionär des internationalen Währungsfonds sind. Und niemand weiß, dass in den Satzungen des internationalen Währungsfonds steht, dass der Sitz dort zu sein hat, wo der größte Aktionär sich aufhält. D. h. der Sitz des internationalen Währungsfonds müsste eigentlich in Frankfurt sein und nicht in Washington. Dies zeigt, dass wir, wenn wir europäische Kräfte bündeln würden, in den internationalen Finanzinstitutionen eine Rolle spielen könnten, die um ein Erhebliches größer und tiefenwirkender wäre als dies zur Zeit der Fall ist.

Der Euro ist der Vater aller zukünftiger europäischer Gedanken und demgemäss Friedenspolitik mit andern Mitteln. Heute wird ja sehr oft vergessen, wieso es zur Schaffung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion kam. Dies hat wesentlich mit den Umwälzungen auf unserem Kontinent zu tun, insbesondere mit der deutsch-deutschen Wiedervereinigung. Angedacht worden war die europäische Währungsunion viel früher, unter anderem von dem damaligen luxemburgischen Premierminister Pierre Werner. Richtigen Auftrieb aber hat die Währungsunion als politischen Auftrag an uns selbst erst in dem Moment verspüren können, als es um die friedliche Wiedervereinigung der Bundesrepublik Deutschland und der von ihr abgetrennten DDR-Teilen gab. Und hätte es dieses europäische Ferment nicht gegeben, hätte es diese Perspektive näheren europäischen Zusammenrückens nicht gegeben, dann wäre die deutsch-deutsche Wiedervereinigung nicht in dem Masse in ihrer Geburtstunde als gelungenes Werk erschienen als das sie letztendlich zu betrachten ist.

Allen Skeptikern und vor Larmoyanz strotzenden Beobachtern in Publizistik und Wissenschaft zum Trotz, gehöre ich noch immer zu denen, die der Auffassung sind, dass die deutsch-deutsche Wiedervereinigung ein Glücksfall für unseren Kontinent ist und ein Konfliktpunkt weniger auf unserem Kontinent. Ich habe sehr oft den Eindruck, dass wer nur mit der Rechentafel an die deutsche Wiedervereinigung und überhaupt an die Erweiterung der Europäischen Union nach Ost- und Mitteleuropa herangeht, das Wesentliche nicht verstanden hat: Eine Stunde Frieden hat keinen Preis!

Wir haben ich in den letzten Jahren den Eindruck gegeben - auch ich gehöre dazu - dass es nichts Wichtigeres gäbe als den Euro. Es gibt eigentlich auch nichts Wichtigeres, obwohl der Euro vielen auf dem politischen Lebensweg Unglück gebracht hat. Eigentlich ist es so, dass der Euro und ich selbst die einzigen Überlebenden des Maastrichter Vertrages sind. Die Währungsunion war für die, die sie erdacht und durchgesetzt haben kein primär monetäres oder währungspolitisches Projekt oder Konzept, sondern eigentlich nur Teil eines breiteren politischen Gesamtprojektes zur Erhaltung der europäischen Friedensordnung. Das ist auch der Grund weshalb sich damals viele mit diesem Thema so schwer getan haben. Sie hatten die politische Dimension nicht erkannt und beschäftigten sich nur mit dem Ökonomischen und dem Währungspolitischen.

Heute ist ja die ökumenische Landschaft kaum noch in ihrer Dichte zu überbieten. Heute gibt es niemanden mehr, der nicht damals auch schon gedacht hätte, der Euro würde das Licht der Welt erblicken. Ich hab viele kennengelernt, als sie noch führende Oppositionspolitiker waren, die mir nicht nur in französischer Sprache sondern auch in derjenigen Goethes vorgetragen haben, ich würde zu der Rubrik der Naiven gehören, weil ich denken würde, der Euro würde fristgerecht eingeführt werden können. Heute, mit Amt und Würden reich versehen, sind sie bekennende Euro-Anhänger. Wenn die katholische Kirche so viele Spätberufene hätte wie der Euro, dann müssten Seminare gebaut anstatt geschlossen werden.

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Weil der Euro immer im Mittelpunkt stand und auch noch steht, sind andere Politikfelder nicht mit genügend großer Energie und Rhythmik begangen worden. Mir fällt auf - nicht nur weil ich lange Jahre Arbeitsminister war und es am liebsten noch wäre - dass vor allem die arbeitenden Menschen, d.h. die Mehrheit der europäischen Bevölkerung, mit dem Projekt Europa vieles in Verbindung bringt, nur nicht sich selbst. Wer jedoch denkt auf Dauer eine europäische Konstruktion erfolgreich gestalten zu können, ohne die Arbeitnehmer mit an Bord zu nehmen, der irrt sich gewaltig. Deshalb brauchen wir in Europa eine europäische Sozialpolitik, die diesen Namen auch verdient.

Die Ausgestaltung der sozialen Dimension Europas ist eine vordringliche Aufgabe. Ich plädiere sehr dezidiert dafür, dass wir, nachdem wir den europäischen Binnenmarkt fast vollständig vollendet haben, nachdem die Währungsunion einen guten Start genommen hat, aus Gründen der Wettbewerbsbeherrschung in Europa einen Mindestsockel an Arbeitnehmerrechten einführen. Das Währungsventil ist entfallen. Niemand kann nationalstaatlich betrachtet Währungskorrekturen vornehmen, um Wettbewerbsungleichgewichte zu korrigieren, die er durch falsch orientierte Politik meistens selbst verschuldet hat. Er wird also tendenziell dazu neigen, sich in ein System sozialen Dumpings abgleiten zu lassen, die sozialen Niveaus, die sozialen Standards, vor allem im Bereich des Arbeitsrechtes nach unten zu durchbohren, um wieder vermeintliche Wettbewerbsfähigkeit herstellen zu können.

Damit dies nicht passiert, und damit sich der Druck auf die eigentliche Strukturpolitik erhöht (weil auch dieses Korrektiv, das soziale Korrektiv entfallen wird), brauchen wir einen Mindestsockel an Arbeitnehmerrechten, der sich nicht an luxemburgischen oder deutschen Niveaus ausrichten sollte, aber Mindestregeln festschreiben sollte, die wir und andere nicht nach unten korrigieren dürfen. Dies ist auch angesichts der bevorstehenden Erweiterung der Europäischen Union nach Ost-und Mitteleuropa von höchster Dringlichkeit. Ich wünschte, dass dies sehr bald in Angriff genommen wird.

Was ich im Zusammenhang mit sozialen Mindeststandards sage, sage ich auch in Zusammenhang mit steuerpolitischen Mindeststandards. Luxemburg gilt ja in Deutschland als Steueroase. Ich bedauere immer mehr, besonders in Wahlzeiten, dass meine luxemburgischen Mit- und Stimmbürger nicht mehr in Deutschland unterwegs sind, damit meine Wähler sich dauernd erklären lassen könnten, sie würden eigentlich in einer Steueroase leben. Die Luxemburger sehen das nicht so, und sie haben auch Recht. Daraus resultiert, dass die deutschen öffentlichen Medien Unrecht haben, wenn sie Luxemburg als Steueroase bezeichnen. Wir bringen keine anderen Steuerregeln zur Anwendung als die, die auch in Deutschland zur Anwendung gebracht werden. Kapitalertragsbesteuerung gibt es nicht für Nichtgebietsansässige in Luxemburg. Ein Deutscher, der also sein Geldvermögen in Luxemburg hat, zahlt keine Zinssteuern. Ein Luxemburger aber, der sein Vermögen in Deutschland unterbringt, auch nicht. Insofern findet also dieselbe Bestimmung Anwendung. Schnell Rechnende haben natürlich herausgefunden, dass es mehr Deutsche als Luxemburger gibt, aber trotz größter demographischer Eigenanstrengung wird es uns in den nächsten 20 Jahren nicht gelingen, Deutschland in dem Punkt zu überholen. Insofern wäre es gut, wenn wir Mindeststeuerregeln in Europa hätten, im Kapitalertragsbesteuerungsbereich aber auch im Bereich der Betriebsbesteuerung, der Körperschaftssteuersätze beispielsweise. Es kann keine gute Politik sein, wenn die Staaten der Europäischen Union und die Staaten der europäischen Währungsunion untereinander in einen unlauteren Steuerwettbewerb dergestalt eintreten, dass derjenige Kapital und Investitionen in seinem Land anzieht, der die Steuersätze auf fast null absenken lässt.

Es wird uns auf Dauer nicht gelingen, unseren öffentlichen Haushalt bedienen zu können, wenn Kapital und Arbeit nicht adäquat besteuert werden. Insofern gehört es zur europäischer Gestaltung der Handelsspielräume europäischer und nationaler Politik, dass wir auch im steuerlichen Bereich zu Harmonisierung kommen, die gut durchdacht ist, wohl abgewägt ist, und nicht einfach aus Europa einen steuerpolitischen Schmelztiegel macht. Wettbewerb muss sein, aber Verhaltensregeln für alle muss es geben!

Die Menschen würden das, was in Europa geschieht, wesentlich besser verstehen, wenn wir dort, wo wir nicht genug Europa haben, dort wo das ungenügende Europa sich als Defizit für die europäische Politik herausstellt, forscher zurande gingen. In der gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik ist der intergouvernementale Weg auf Dauer keine Lösung. Wer Europa kennt, und wer Europa in der Welt frisch und neu positionieren möchte, der wird den sogenannten zweiten Pfeiler der Europäischen Union und des europäischen Vertragswerkes auf Dauer vergemeinschaften müssen. Der hohe Vertreter für Außenpolitik, Herr Solana, der eine ausgezeichnete Arbeit macht, müsste seinen Stammplatz in der Europäischen Kommission und nicht in einem dem Europäischen Ministerrat angegliederten Nebenraum haben.

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Wir brauchen also hier mehr Europa und nicht weniger Europa, und das, was ich mit Blick auf die Aussen- und Sicherheitspolitik sage, sage ich auch mit Blick auf den sogenannten dritten Pfeiler, innere Angelegenheiten und Justiz. Wenn wir es schaffen in Europa deutlich zu machen, dass die europäische Politik, weil es sie gibt und weil sie sich die Mittel des Könnens an die Hand gibt, auch antritt, um gegen das europaweit tätige internationale Verbrechertum anzutreten, dann bringen wir die Menschen wieder dazu, dass sie die Nützlichkeit der europäischen Politik erkennen. Verbrechertum und Mafia genießen längst in vollem Masse den Wegfall europäischer Grenzen. Wir aber bekämpfen das internationale Verbrechertum mit lächerlichen nationalen Polizeiapparaten, die ihr Handwerk wesentlich effizienter gestalten könnten, wenn wir in Europa über so etwas wie ein europäisches FBI verfügen würden und wenn die Polizei über die Grenzen hinweg tätig werden könnte, um sich dem internationalen Verbrechertum und dem Drogenhandel in den Weg zu stellen. Der Nationalstaat führt zu keinem Resultat und begünstigt eigentlich das hegemoniale Sich-Ausbreiten des internationalen Verbrechertums, das unsere Gesellschaftsordnung wesentlich stärker in Frage stellt als viele andere Überlegungen.

Von der Mafia und von dem internationalen Verbrechertum geht in Europa eine größere Bedrohung aus als von den Demonstranten, die regelmäßig europäische Gipfel mit ihrer Anwesenheit beehren, und neulich sogar in Göteborg einen Ehrendoktor in die Flucht schlagen konnten, weil ich in meinem Hotel nicht unter den notwendigen relevanten Sicherheitsaspekten nächtigen konnte. Trotzdem habe ich mehr Angst vor der Mafia als vor denen. In Göteborg hat mich die schwedische Polizei beschützt, und ich hätte gerne, dass die europäischen Bürger gegen das internationale Verbrechertum von einer europäischen Polizei beschützt würden, anstatt dass wir uns in lächerlichen, kleinkarierten Hinterzimmern und Vorgärten in nationaler Verbrechensbekämpfung üben.

Es gibt vieles zu tun! Vieles kann auch schnell gemacht werden. Nicht alles kann gut gemacht werden, wenn es schnell gemacht wird. Aber was man schnell und gut machen könnte, wäre europäische Politik und europäische Bürger etwas näher zueinander zu bringen. Wer nicht weiß, wer ihn im Europäischen Parlament vertritt, wird keinen Bezug zum europäischen Parlament herstellen können. Dabei ist das europäische Parlament sehr oft gemeinsam mit dem Europäischen Ministerrat zu einem erheblichen Teil an der deutschen Gesetzesbildung beschäftigt, was viele überhaupt nicht wissen. Aber solange Parteien die Rangfolge ihrer Kandidaten festlegen und eigentlich selbst darüber bestimmen, wer Mitglied des Europäischen Parlamentes wird, anstatt dass die Wähler darüber bestimmen, wird dieses Europäische Parlament sich auf seiner Suche nach öffentlichem Zuspruch und nach stärkerer Legitimität selbstverständlich schwer tun.

Genauso bin ich der Auffassung, dass wir so etwas wie eine europäische Steuer bräuchten. Nicht um den Steuerbürger steuerlich mehr zu belasten, sondern um die Einnahmenseite des europäischen Haushaltes transparenter zu machen. Kaum jemand weiß, wie der europäische Haushalt aus nationalen Kassen finanziell bedient wird. Eine Doktorarbeit handelte über das Thema, wenn ich vorher richtig zugehört habe. Ich verspreche mir davon größere Transparenz auf der Einnahmenseite und größere Effizienz auf der Ausgabenseite. Wenn Abgeordnete, die man kennt, und Kommissare, die man kennt und direkt wählen könnte, wissen, dass jeder Steuerbürger weiß, wieviel Geld aus seiner Geldtasche in den Brüsseler Haushalt überwiesen wird, dann wird wesentlich besser darauf aufgepasst werden, was mit dem Geld geschieht und wie dieses Geld angewandt wird als dies zur Zeit der Fall ist.

Das Thema europäische Verfassung ist in aller Munde. Ich bin nachdrücklich der Auffassung, dass wir in Europa eine Verfassung brauchen. Darüber wird viel geschrieben, auch hier an der Universität. Auch Herr Habermas meldet sich mit einleuchtenden, rhetorisch geschickt formulierten Sätzen zu Wort. Wir brauchen eine europäische Verfassung, in der zusammengetragen wird, was uns allen gemeinsam ist. Wobei ich nicht der Auffassung bin, dass wer europäische Verfassung sagt, damit eine europäische Verfassung über die Verfassungsordnung der Nationalstaaten und der die Europäische Union zusammensetzenden Nationalstaaten stellen sollte. Dies würde uns nämlich nicht gelingen.

Wer denkt, Nationen wären eine provisorische Erfindung der Geschichte, gewissermaßen eine Laune des Zeitgeistes, der irrt sich. Nationen sind auf Dauer angelegt. Aus diesem Grund sollten wir uns als 15 Mitgliedstaaten der Europäischen Union oder als demnächst 20 oder 23, 24 auf einen Verfassungskodex festlegen, und festschreiben, was uns gemeinsam ist und wo wir hin wollen. Dies nennen wir europäische Verfassung, verabschieden sie aber nicht als solche, sondern versuchen diese gleichlautenden Verfassungsartikel in unsere jeweiligen nationalen Verfassungen in einem normalen verfassungsgebenden Verfahren durch die nationalen Parlamente aufzunehmen. Dann hätten wir in allen Verfassungen der Europäischen Union einen gleichlautenden Wortlaut sowie verfassungsrelevante Artikel in den 15 nationalen Verfassungen insofern es geschriebene Verfassungen gibt, was ja, wie wir wissen, nicht der Fall ist.

Ich halte dies nicht für eine Voraussetzung, aber für ein unabdingbares Wegbegleitungselement, wenn es um die Erweiterung nach Ost- und Mitteleuropa geht. Es stört mich vieles an der Erweiterungsdiskussion. An dem politischen Diskurs stört mich, dass wir so tun, als ob dies im Handumdrehen zu schaffen wäre. Ich habe mich in dieser Stadt schon einmal gegen eine Erweiterung im Galopp ausgesprochen. Ich bin der Meinung, dass Erweiterungsverhandlungen dadurch an Klarheit und an tragender Zukunftskraft gewinnen, dass alle strittigen Punkte wirklich durchverhandelt werden und nicht einfach aus politischen Gründen Erweiterung herbeigeführt wird dort, wo Abwartung eigentlich empfehlenswerter wäre. Nichtsdestotrotz dürfen wir an dem Ziel, die Europäische Union und ihre friedensstiftende Wirkung nach Ost- und Mitteleuropa zu tragen, keinen Zweifel aufkommen lassen.

Ich habe gesagt, Europa ist ein komplizierter Kontinent. In den östlichen und mittleren Teilen seiner geographischen Breite ist dieser Kontinent noch komplizierter als wir denken. Der Balkan ist ein Teil Europas. Das ist nicht Asien, das ist Europa. Wir müssen uns bewusst sein, dass viele in Europa und nicht nur in Europa, auf die Europäische Union warten. Es wird ja niemand gezwungen, Mitglied der Europäischen Union zu werden. Nachdem die jungen Demokratien sich vom Kommunismus befreit und ihre volle Souveränität wiedergefunden haben, haben sie sich sofort auf den Weg nach Europa gemacht, anstatt ihren neuentdeckten Nationalismus im positiven Sinne so auszutoben, dass er eigentlich nur noch in seiner perversen Erscheinungsform wiederzufinden gewesen wäre. Wenn die Polen, Tschechen, Slowaken, Slowenen und viele andere sich jetzt auf nationalen Irrwegen verlaufen würden, die immer zu Kollisionsgefahren in Europa führen, anstatt dass sie ihre eben erst wiedergefundene Souveränitäten in diese europäische Friedensordnung einbringen, dann wäre es um diese europäische Friedensordnung wesentlich schlechter bestellt als es ist. Mir ist es lieber, die Menschen in Ost- und Mitteleuropa richten ihre Erwartungen auf uns anstatt dass sie ihre Raketen auf uns richten. Das war 40 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges der Fall. Insofern sollten wir uns über die Lage in Europa nicht beklagen, sondern unseren Beitrag leisten, damit diese Lage sich nicht in die Schicksalslage zurückverwandelt, die eigentlich die gesamteuropäische Lage in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf so dramatische Art und Weise für die Menschen darstellte und für viele in Osteuropa auch 50 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Es ist ja nicht das individuelle Verdienst der Westeuropäer, dass wir auf der Sonnenseite des Kontinentes groß werden dürfen. Es ist nicht die kollektive Schuld der Ost- und Mitteleuropäer, dass sie auf der Schattenseite des europäischen Kontinentes groß werden müssen. Insofern ist die Vereinigung des Kontinentes auch ein friedensbildendes Werk, wenn man es richtig versteht. Man muss es so verstehen, damit es gelingen kann.

Danke.

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