Le Premier ministre Jean-Claude Juncker à l'université Humboldt de Berlin: "Die Denkpause nutzen: Strategien zur Verfassung für Europa"

Traduction française

(Transkribierte Fassung der frei gehaltenen Rede)

Sehr verehrter Herr Bundesfinanzminister, lieber Hans,
Herr Staatssekretär,
Meine Herren Botschafter,
Meine Herren Professoren,
Meine sehr verehrten Damen und Herren,

ich soll über Europa reden. Über seine Irrungen, seine Wirrungen, sein Wachsen und Werden, und das gegen Ende eines Jahres, das für die Europäische Union kein gutes gewesen sein wird. Spätestens seit Mitte Juni steckt Europa in einer Krise, in einer tiefen Krise. Glauben Sie denen nicht, die denken, dies wäre nur eine der üblichen europäischen Krisen. Diese Krise sitzt wesentlich tiefer. Dementsprechend länger werden wir auch brauchen, um aus dieser Krise herauszufinden.

In diese tiefe europäische Krise sind wir trotz einiger nicht unwesentlicher und richtiger Grundsatzentscheidungen geraten, die wir in der ersten Jahreshälfte zu treffen wussten. So haben wir beispielsweise im März den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt reformiert. Dies hat in Deutschland nicht immer Stürme der Begeisterung ausgelöst. Die, die am wenigsten begeistert waren, werden demnächst mit größter Begeisterung feststellen, dass dieser Pakt seine Zähne nicht verloren hat und dass er spätestens Ende 2007 kräftig zubeißen wird, wenn bis dahin nicht einige Dinge in Ordnung gebracht worden sind. Wir haben diesem Stabilitätspakt eine ökonomische Ratio gegeben, die ihm in seiner ersten Ausführung ganz einfach fehlte.

Wir haben auch im März die so genannte Lissabonner Reformagenda zwischenbilanziert, weil wir festgestellt hatten, dass von dem Aufbruch des Jahres 2000, in dem wir uns den Vorsatz genommen hatten aus der Europäischen Union bis zum Jahre 2010 den wettbewerbfähigsten Teil der Weltwirtschaft zu machen, wenig übrig geblieben war. Ergo haben wir, unter luxemburgischem Vorsitz, diese Lissabonreformagenda dahingehend umorientiert. Wir haben die Verantwortungsbereiche klarer festgelegt, indem wir – was es eigentlich nicht bedurft hätte, aber trotzdem bedurfte – klar gestellt haben, dass die eigentliche Hauptaufgabe, die Reformprozesse in der europäischen Volkswirtschaft betreffend, bei den nationalen Regierungen liegen und nicht so sehr auf der europäischen Ebene angesiedelt sind. Was zur Folge hat, dass demnächst sämtliche 25 europäische Regierungen nationale Reformprogramme in Europa einbringen müssen, die sie auch vor ihren nationalen Parlamenten und mit ihren nationalen Sozialpartner verantworten müssen.

In der ersten Jahreshälfte haben wir dafür gesorgt, dass wir in Sachen Klimaschutz bei eindeutigen Vereinbarungen bleiben und Wege und Mittel festgelegt, nach denen im Jahre 2012 zu handeln ist.

Wir haben in Sachen europäische Entwicklungspolitik deutliche Fortschritte erzielt, dadurch, dass wir imstande waren, uns darüber zu verständigen und uns demgemäß auch in die Pflicht genommen haben, die europäische Entwicklungshilfe auf 0,56% des europäischen Bruttosozialproduktes bis zum Jahre 2010 und auf 0,7% bis zum Jahre 2015 anzuheben. Das bedeutet immerhin jedes Jahr 20 Milliarden Euro mehr, die zum Kampf gegen die Armut in der Welt bereitstehen. Ich halte dies für ein wichtiges europäisches Unterfangen. Nachdem es uns im 19. Jahrhundert geglückt und gelungen ist, die Sklaverei zu beenden, muss es uns in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts, vor allem durch die europäischen Anstrengungen, gelingen, die Armut weltweit radikal auszumerzen. Die Europäer befinden sich auf gutem Wege, ihren Beitrag in vollem Umfang dazu leisten zu können.

Das Ziel 0,7% hatten wir uns zwar schon in den 1970er Jahren auf UNO-Ebene vorgenommen. Nur wenige haben dieses Ziel erreichen können. Es gibt nur fünf Länder, die eigentlich mehr als 0,7% ihres nationalen Reichtums aufbringen, zu entwicklungspolitischen Zwecken bereitstellen. Das sind samt und sonder kleine Länder. Das sind die Niederlande, das sind Schweden, Dänemark, Norwegen und Luxemburg. Wir gehören zwar nicht zum G7, aber ich bilde mir einiges darauf ein, dass Luxemburg zum G-0,7 gehört und bedauere sehr, dass keiner der G7 auch nur zu den G-0,5 Ländern gehört. Insofern müssen nicht nur Kleine sich anstrengen um weiterzukommen, auch Große müssen etwas größere Sprünge in der Beziehung machen.

Diese Beschlussfassungen können nichts an dem Befund ändern, dass sich Europa in einer Krise befindet. Auch die Tatsache nicht, dass wir in der ersten Jahreshälfte, anlässlich von zwei Gipfeltreffen mit Präsident Bush, die Irritationen im europäisch-amerikanischen Verhältnis zum großen Teil eliminieren konnten. Außerdem konnten wir in vielen Gesprächen mit dem russischen Präsidenten Putin die Nervositäten, die sich in das russisch-europäische Verhältnis eingeschlichen hatten, einigermaßen aus dem Wege räumen.

Diese eigentlich positive Bilanz des europäischen Tuns wurde jäh unterbrochen durch die Tatsache, dass die französischen Wahlbürger am 29. Mai der europäischen Verfassung, die zum Votum anstand, den Rücken kehrten und dadurch, dass am 1. Juni unsere niederländischen Freunde dem europäischem Vertragswerk die kalte Schulter zeigten. Hinzu kam, dass wir anlässlich des Junigipfels 2005 trotz größter Bemühungen, auch trotz meiner größten Anstrengung, nicht imstande waren, uns auf eine finanzielle Vorrauschau für den Zeitrahmen 2007-2013 zu verständigen. Auch wenn es uns gelungen wäre das Finanzvolumen für diese Periode 2007-2013 abzustecken und selbst wenn es uns gelungen wäre, die Referenden in den Niederlanden und in Frankreich positiv über die Runden zu bringen, so steht für mich außer Frage, dass die Europäische Union trotzdem in eine tiefere Krise geraten wäre. Vielleicht hätte es nur länger gedauert, bevor wir es gemerkt hätten. Wenn wir beispielsweise in Sachen finanzielle Vorrausschau zu Potte gekommen wären, dann hätten wir dem niederländischen und dem französischen Nein zum Verfassungswerk den desaströsen Schwung nehmen können. Trotzdem wäre es uns nicht gelungen auf Dauer die europäischen Krisenerscheinungen in den Griff zu bekommen.

Wieso ist es eigentlich zu diesem betrüblichen Zustand europäischer Dinge ab Juni 2005 gekommen? Nicht wegen der Referenden und nicht nur allein wegen der Referenden, nicht nur wegen des Scheiterns der Finanzverhandlungen. Wir bilden uns immer ein, und das mag Vielen als Trost erscheinen, dass Krisen, auch politische Krisen, quasi vom Himmel fallen. Sie fallen aber nicht vom Himmel. Krisen sind keine gängigen Naturkatastrophen, denen man hilflos gegenübersteht. Krisen bauen sich langsam auf, blasen sich Stück für Stück auf, bevor sie sich dann massiv, gewitterartig, irgendwann entladen. Krisen, würde man genau hinschauen, könnte man in ihrem Entstehen daran erkennen, dass sich dunkle Wolken über europäische Wege zusammengezogen hätten. Aber es war der Unterlassungsfehler der europäischen Staats- und Regierungschefen, dass wir nie versucht haben, diese Wolkentürme, die wir sich haben aufbauen sehen, auch nur einigermaßen deuten zu wollen. Wir haben Fehler gemacht. Wenn man versucht Wege aus der Krise zu finden, wenn man versucht der europäischen Verfassung wieder ein Stück näher zu kommen, um dann dieses Ziel endgültig zum Positiven und Rechten der Europäischen Union umzugestalten, dann muss man sich zuerst, wie ich finde, mit den Fehlern beschäftigen, die man selbst und die man gemeinsam mit anderen begangen hat, bevor man Wege ausloten kann, die in bessere Gefilde führen.

Der erste Fehler, den wir über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinweg gemacht haben, ist wohl der, dass wir alle dauernd schlecht über Europa reden. Ich kenne keinen anderen Verein, der so schlecht über seinen Verein redet wie wir Europäer dies machen. Als ob wir nur dann zu den höchsten wolllüstigen Gefühlen kämen, wenn wir uns möglichst schlecht präsentieren. Staatspräsidenten, Premierminister, Finanzminister reden immer wieder und immer öfter schlecht über Europa. Wenn die Europäische Union etwas Richtiges tut, etwas, das auch von den öffentlichen Meinungen als richtig empfunden wird, dann ist dies im Regelfall – so klingen wir, wenn wir nach Hause fahren – einzig und allein dem außergewöhnlichen Verhandlungsgeschick der nationalen Regierung zu verdanken. Tut Europa etwas Falsches, etwas, was die Menschen auch als nicht richtig empfinden, so buchen wir das auf das Konto der Unvernunft der Mitregierenden. Diejenigen, die als handelnde Personen nach Brüssel fahren und als behandelte Personen aus Brüssel zurückkommen, sind entweder nur positiv an europäischen Dingen beteiligt oder erleiden negativ die Auswüchse der Unvernunft der in Europa Mitregierenden. So ist auf Dauer ein schiefes Europabild entstanden. Dieses schiefe Europabild hängt in Millionen europäischer Wohnungen. Europa ist gut wenn wir uns durchsetzen, Europa ist schlecht wenn wir uns nicht durchsetzen können.

Dieses schiefe Bild hat im Übrigen zu einem kollektiven Eindruck geführt, als sei Europa nicht ein gemeinsames Regieren um zu gemeinsamen Zielen, um zu gemeinsamen Verabredungen zu kommen, sondern als sei die europäische Entscheidungsfindung ein aus tiefen Gegensätzen, nach einem kräftigen Schaukampf geborenes, nur halbwegs zufriedenstellendes Kompromisswerk. Wir geben den Eindruck als sei die Entscheidungsfindung in Europa ein Konfrontationsmechanismus, anstatt den richtigeren Eindruck zu vermitteln, dass wir nach langem Streit, der ja in der Demokratie sein muss und sein darf, und den es nicht nur im Nationalstaat geben kann, sondern auch in Europa geben muss, zu den konsensbildenden Maßnahmen kommen, die Europa weiterbringen.

Dieses Europa-Miesmachen, diese quasi regierungsamtliche Miesmacherei führt sehr wohl dazu, dass beispielsweise bei Volksbefragungen und Referenden die Bürger plötzlich darüber staunen, dass ihre Regierungen Zustimmung zu diesem Projekt fragen, das sie eigentlich nur in negativen Bildern übers Jahr geschildert bekommen. Und das tun die Menschen nicht, weil sie glauben den Regierungen besonders dann, wenn sie nicht positiv über einen Gesamtzusammenhang reden. Das ist der erste Fehler. Ich sehe kaum Besserung, was das fehlerhafte an diesem Benehmen anbelangt.

Dann sind wir, das steht in direktem Zusammenhang mir dem eben Gesagten, nicht im Geringsten stolz auf Europa. Das ist etwas, das mich immer wieder wundert, dass wir es als Europäer nicht schaffen, weder in unseren Nationalstaaten noch als Europäische Union insgesamt, so etwas wie Stolz für das gemeinsam Geschaffene selbst zu empfinden und dann anderen Menschen zu vermitteln. Das ist doch was, diese Europäische Union, die wir zustande gekriegt haben.

Es ärgert mich sehr, wie leichfertig wir heute über europäische Dinge reden. Wie selbstverständlich uns das Friedliche an unserem Kontinent vorkommt, wie unbedacht wir eigentlich mit diesem höchsten Gut des Friedens umgehen. Wie groß unsere Angst eigentlich ist, uns nicht lächerlich zu machen, wenn wir öffentliche Vorträge über Europa halten, dass wir wieder und wieder auf diese ewige dramatische europäische Frage hinweisen, die darin besteht, ob wir unsere Konflikte mit friedlichen Mitteln lösen oder ob wir unsere Konflikte mit militärischen Mitteln lösen, so wie wir das immer gemacht haben. Dass wir eigentlich kaum noch ein Augenmerk darauf werfen, dass diese Männer und Frauen, die von den Frontabschnitten zurückgekehrt sind, die aus den Konzentrationslagern zurückgekehrt sind in ihre zerbombten Städte und Dörfer, dass die, anstatt sich hinzusetzen und nichts zu tun, über ihr Schicksal zu weinen – und sie hätten jeden Grund dazu gehabt – die Ärmel hochgekrempelt haben und angepackt haben. Sie haben sich gemeinsam geschworen, dass es so etwas nie mehr in Europa geben darf. Wieso ist ein Kontinent, auf dem es soviel Blut, soviel Zerstörung, soviel Tod, so viele zerstörte Biographien, soviel ungeträumte Träume, so viele Projekte, die Menschen nie realisieren konnten – wieso ist so ein zerklüfteter Kontinent nicht stolz darauf, dass er es geschafft hat, diesem Elend endlich ein Ende zu setzen?

Und deshalb muss man sich mit dieser Kriegs- und Friedensfrage immer wieder neu beschäftigen. Die, die denken, die Oberflächlichen, die Eilfertigen, die nicht genau Hinblickenden, dass die alten Dämonen, die in unseren Bergen und Tälern sitzen, endgültig weg wären, irren sich fundamental. Heute vor zehn Jahren wurde noch in Sarajewo geschossen, mit scharfer Munition wurden Menschen umgebracht. Heute vor 15 Jahren wurden im Balkan die ersten kriegerischen Auseinandersetzungen geführt. Heute vor sechs Jahren wurden in Kosovo Frauen vergewaltigt, Kinder verprügelt, weil sie der falschen ländlichen Gruppierung zugehörten. Und wir denken, das Thema wäre gegessen, das Thema wäre endgültig erledigt? Dieses Thema ist nie endgültig erledigt. Und deshalb brauchen wir Europa. Wir sollten stolz darauf sein, dass wir es so weit in Europa gebracht haben.

Der Euro ist ein weiteres Beispiel, das uns stolz machen könnte. Wer hätte denn gedacht, als wir den Maastrichter Vertrag aushandelten und unterschrieben, dass wir das schaffen? Wir haben immer gedacht, 1992-1993, es werden vier oder fünf Staaten sein, die 1999 die Reise in die Währungsunion antreten. Dann sind es zwölf geworden. Und nicht nur haben die Nicht-Europäer es uns nicht zugetraut, auch wir selbst haben es uns nicht zugetraut, dass wir dies schaffen können.

Und wir haben es geschafft.

Und heute sind die, die eigentlich später zu Euro-Erkenntnissen vorgestoßen sind, die eifrigsten Verfechter des Euros und der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Wir sollten darauf stolz sein, dass wir dies geschafft haben, bei allen Versäumnissen, bei allen Fehlern, bei allen Defiziten, die es gibt. Stolz sollte man darauf sein, dass zwölf Staaten das wichtigste Attribut nationaler Souveränität abgegeben haben, und in einer Art und Weise zentral zusammengeführt haben, das Europa wesentlich stärker gemacht hat.

Der britische Premierminister hat uns vor zwei, drei Wochen nach Hampton Court eingeladen, um über die Folgen der Globalisierung für die europäischen Wirtschafts- und Sozialräume nachzudenken und Antworten darauf zu formulieren. Die einzige flüssige, konsequente, kongruente, kohärente Antwort auf die Globalisierung ist die Schaffung des Euros. Das wäre doch eine richtige britische Antwort auf die Globalisierung, wenn man den Euroraum einfach durch Beitritt in denselben verstärken würde. Aber ich weiß auch, dass dies so einfach nicht ist.

Dann machen wir nicht nur den Fehler, dass wir schlecht über Europa reden, wir machen nicht nur den Fehler, dass wir nicht stolz auf Europa sind, wir machen auch noch den Fehler, dass wir das Richtige manchmal falsch machen. Ich rede von der Erweiterung der Europäischen Union nach Ost- und Mitteleuropa. Als die Mauer fiel, war die Zustimmung zur Erweiterung nach Ost- und Mitteleuropa prozentual im hoch angesiedelten Bereich zu orten. Es ist ja auch in Deutschland so, dass man sich nicht mehr so richtig freuen kann über die deutsche Wiedervereinigung. Manchmal komme ich mir so vor, einer der wenigen der deutschen Sprache mächtigen Politiker in Europa zu sein, der sich dauerhaft an der deutschen Wiedervereinigung freut. Ich bin ein freier Bürger in einer freien Stadt. Und ich staune darüber, dass sich in Deutschland kaum noch Menschen darüber freuen, dass dieses historische Wunder überhaupt möglich war.

Und so wie das mit der deutschen Wiedervereinigung vonstatten ging, so ist es auch mit der europäischen Wiedervereinigung vonstatten gegangen. Am Anfang war die Zustimmung groß. Und wir haben den Fehler gemacht, dass wir dachten, diese Anfangsbegeisterung, die setzt sich jetzt über die Jahre fort, ohne dass man die Menschen mit dem Rhythmus der Geschichte, den die Geschichte plötzlich eingenommen hatte, dauerhaft und immer wieder neu bekannt machen muss. Wir haben gedacht, die Begeisterung war groß, also ist die Begeisterung groß, also wird sie groß bleiben. Das war aber nicht so, weil wir den Menschen Essenzielles nicht erklärt haben. Ich bin überhaupt nicht der Meinung, dass jeder politische Misserfolg auf mangelnde Erklärung zurückzuführen ist, aber manchmal schon. Wir haben den Menschen nicht vermittelt, dass – um in Abwandlung der Brandt-Formel dies auszu¬drücken – hier in Europa zusammenwachsen musste, was ohnehin zusammengehörte.

Es sind in Europa, und das wurde nie thematisiert, nach dem Mauerfall in und um Europa, an der direkten europäischen Peripherie, 22 Staaten neu entstanden, die es 1988-1989 noch überhaupt nicht gab. Von den acht mitteleuropäischen Staaten, die der Europäischen Union am 1. Mai 2004 beigetreten sind, hat es sechs überhaupt noch nicht gegeben als die Mauer fiel. Um die Europäische Union herum findet man acht in hohem Maße nicht stabile Staaten, die es 1989-1990 noch überhaupt nicht gab. Diese 22 Staaten frei treiben zu lassen, ihnen nicht den Zugang zur europäischen Solidaritäts- und Stabilitätswerft zu eröffnen war eine historische Verantwortung, die man nicht übernehmen konnte. Wir mussten diese Staaten, Länder, diese Menschen, die sich ja selbst vom Kommunismus befreit hatten – es waren ja nicht unsere Sonntagsreden, die sie auf diese Idee brachten –, den Weg in diese Europäische Union hinein ebnen, ansonsten die Verhältnisse in Europa wesentlich unstabiler wären, als sie es zur Zeit sind. Diese unzähligen Grenzkonflikte zwischen diesen neuen Staaten, die ethnischen Spannungen, die es quer durch diese neuen Demokratien gibt, die ungelösten Minderheitsfragen, die es in fast jedem dieser neuen Mitgliedstaaten gibt, all dies hätte sich zu einer Problemdichte weiter entwickelt, die, wenn sie sich entladen hätte, die Verhältnisse in Europa wesentlich destabilisiert hätten. Die Erweiterung der Europäischen Union nach Ost- und Mitteleuropa kann man eigentlich nur im Lichte der Vorstellung einer europäischen Nicht-Wiedervereinigung verstehen.

Statt den Menschen dies zu vermitteln, statt den Menschen zu vermitteln, dass wir durch das solide Werden der Europäischen Union ein Stabilitätsanker auf unserem Kontinent geworden sind, der nie einen so reich gezierten Stabilitätspol hatte, haben wir es zugelassen, dass die Erweiterung langsam aber sicher als eine gewaltige Bedrohungswalze beschrieben wurde, die sich, so als ob die Wilden nach Westeuropa kommen würden, über unseren Wohlstand und über unsere Art und Weise des Zusammenlebens hermachen würden und diese regelrecht laminieren würden. Und deshalb haben wir, wenn wir mit den Menschen diskutiert haben, eigentlich langsam das Thema Erweiterung negativ thematisiert, anstatt die stabilisierende Wirkung der europäischen Wiedervereinigung in den Mittelpunkt unserer Erklärungen und Gedanken zu stellen.

Und dann reden wir nicht nur schlecht über Europa, und wir tun das Richtige nicht nur falsch – siehe das Kommunikationsdesaster in Sachen Erweiterung – wir reden auch noch manchmal über das Falsche. Wir reden viel zu viel über Geld. Wir haben den Menschen daran gewöhnt, dass es in dieser Europäischen Union eine Reihe Länder gibt, die viel zu viel, wie dies salopp formuliert heißt, in die europäischen Kassen einbezahlen, und andere, die viel zu viel aus diesen europäischen Kassen abziehen. Dadurch entsteht das Gefühl, nicht dass wir solidarisch ein gemeinsames Werk finanzieren, sondern dass die einen überbevorteilt sind und die anderen überfordert sind.

Nun gehöre ich überhaupt nicht zu denen, die hier Streit darüber anfangen würden, ob Deutschland zu viel oder zu wenig in die europäischen Kassen einbezahlt. Ich bin der Meinung, dass der deutsche Beitrag exakt dem entspricht, was man von Deutschland wird verlangen können. Und ich bin sehr mit ihm einverstanden, mit der alten und der neuen Bundesregierung, dass man den deutschen Steuerzahler nicht überfordern kann. Man kann nicht einerseits Haushaltskonsolidierungen einklagen und gleichzeitig auf europäischer Ebene zusätzliche Zahlungsforderungen an die Bundeskasse verschicken. Dieses, zusammengenommen, geht nicht, der reformierte Stabilitätspakt trägt diesem Teilaspekt im Übrigen sehr deutlich Rechnung.

Aber dadurch, dass wir das Gefühl geben, als ob Europa zu viel Geld koste, tragen wir zu einer Sicht der Dinge bei den Menschen bei, die nicht der richtigen Ansicht entspricht, die man haben muss, wenn man europäische Geschichte und europäisches Wachsen und Werden im Detail und auch in groben Zügen nur kennt. Europa ist mehr als nur der europäische Haushalt. Er muss korrekt finanziert werden und kein Mitgliedsland darf mehr als adäquat belastet werden. Aber eine Stunde Krieg in Europa ist teurer als zehn Jahre europäischer Haushalt und europäische Transferleistungen. Dies muss man einfach sehen, ohne daraus den Trugschluss zu ziehen, als ob man der Heimajustierung der nationalen Transferleistungen nach Brüssel nicht die gebotene Aufmerksamkeit schenken sollte.

Wir reden nicht nur zu viel über Geld, wir reden auch noch falsch über Geld. Wir lassen es zu, weil niemand genau zuhört, dass Behauptungen in die Welt gesetzt werden, die ganz einfach nicht stimmen. Es wird die Behauptung aufgestellt, Europa gibt mehr Geld für Agrarpolitik aus als für Forschung. Die Behauptung ist falsch. In dem Lösungsvorschlag, dem Kompromissvorschlag, den die luxemburgische Präsidentschaft der britischen zur Begutachtung überlassen hat, der datiert von Juni 2005, werden für Agrarpolitik 298 Milliarden Euro über sieben Jahre aufgebracht. Aber Landwirtschaftspolitik finanziert sich exklusiv über die Kanäle des europäischen Haushaltes. Forschungspolitik aber hat EU-Komponente und nationale Komponente. Nimmt man alle zusammen, stellt man fest, dass von 2007-2013 755 Milliarden für Forschung und Entwicklung ausgegeben werden und etwas weniger als 300 Milliarden für europäische und nationale Landwirtschaftspolitik. Europa gibt immer mehr Geld aus für Agrarpolitik, wird gesagt. Die Vorschläge, die auf dem Tisch liegen, senken den Agraranteil am EU-Haushalt von 36,7% auf 31,2%. 17% Einsparungen in sieben Jahren für die EU-15 und 5% Einsparungen für die EU-27.

Was soll das eigentlich, falsche Dinge über Europa in Umlauf zu bringen und sich dann zu wundern, dass viele Menschen denken, wir würden die Dinge in Europa nicht richtig machen? Wir machen nicht nur Fehler dadurch, dass wir schlecht über Europa reden, wir machen nicht nur den Fehler, dass wir das Richtige falsch machen oder dass wir zu viel oder falsch über Geld reden. Wir machen auch den Fehler, und der ist noch schlimmer, dass wir uns in unserer Begriffskategorisierung manchmal vergreifen.

Wir haben den europäischen Völkern, denen jedenfalls, die gefragt wurden, oder den nationalen Parlamenten in den verschiedensten EU-Staaten, eine europäische Verfassung vorgelegt. Als wir uns auf den Weg machten zu diesem neuen europäischen Grundlagenvertrag, hat mit Ausnahme einiger weiter Entwickelter niemand von europäischer Verfassung geredet. Plötzlich hieß das europäische Verfassung. Ich halte dies im Nachhinein für einen Fehler, bei dessen Zustandekommen man energisch hätte widersprechen müssen. Bei dem Verfassungsbegriff assoziieren die Menschen exklusiv nationale Bezugsgrößen. Ein Staat hat eine Verfassung, im föderalen Staatengebilde auch noch Länder, aber die Vorstellung, dass die Europäische Union sich jetzt eine Verfassung gäbe, legt den Gedankenkurzschluss nah, damit befände sich Europa auf dem Weg zur Staatlichkeit. Und das wollen die Menschen nicht.

Als ich noch jünger war, habe ich auch von den Vereinigten Staaten von Europa geredet. Ich tue das nicht mehr, weil die Menschen das ganz einfach brauchen, das, was Konservative Heimat oder Vaterland nennen, und ich die sofortige Proximität nennen würde. Die Menschen möchten nicht aufhören oder auch nicht das Gefühl kriegen, nicht mehr Deutsche sein zu dürfen, nicht mehr Bayern sein zu dürfen, nicht mehr Niedersachsen oder Hessen sein zu dürfen. Nein. Die Menschen haben überhaupt nicht das Gefühl, als ob Nationen provisorische Erfindungen der Geschichte seien. Die Menschen wollen, dass diese Nationen auf Dauer eingerichtet sind.

Deshalb sollten wir nicht durch falsche Begriffswahl den Eindruck vermitteln, wir hätten so eine Art kontinentalen Hintergedanken, der darin bestünde, langsam aber sicher die Staatlichkeit der Nationen langsam verschwinden zu lassen und die früheren europäischen Staaten und Nationen in ein europäisches Staatengebilde überzuführen, das sie ersetzen könnte. Deshalb muss man, wenn man politischen Diskurs pflegt, sehr genau darauf achten, wie man bestimmte Instrumente, die man aus gutem Glauben und aus guten Gründen in Vorschlag gebracht hat, wie man diese benennt.

Jetzt, während der luxemburgischen Präsidentschaft haben wir im Juni 2005 eine Reflexionspause, eine Denkpause dekretiert. Ich weiß inzwischen sehr genau was eine Pause ist. Ich dachte auch immer zu wissen, was Reflexion eigentlich meint. Ich kann zurzeit noch nicht genau ergründen, was eine Reflexionspause ist, weil ich mehr Pause als Reflexion zur Zeit sehe. Dabei wird es höchste Zeit, dass wir uns ans Nachdenken machen, weil die Welt, die wartet nicht auf uns.

Wenn man sich Wege aus der Krise überlegt oder vorzustellen versucht, dann muss man sich mit all den Fehlern, die ich hier habe aufblitzen lassen, mit der Hauptkritik, dem Hauptvorwurf an die Europäische Union und an das europäische Vertragswerk beschäftigen. Die Hauptkritik ist, dass die Europäische Union sich viel zu weit vom europäischen Bürger entfernt hat. Diesen Graben, den viele ausmachen zwischen europäischer Politik und den Befindlichkeiten der Menschen in Europa, den Sorgen, die sie umtreiben, ist riesengroß. Den gibt es zwar auch im National¬staat. Aber dort haben die Menschen das Gefühl, wenn der Graben zu breit wird, dann werden die, die ihn verbreitet haben, abgewählt. In Europa gibt es diese demokratische Sanktionswaffe, Wahlen genannt, in der Form nicht, weil es keine europäische Regierung und im Europäischen Parlament weder Mehrheit noch Minderheit gibt. Das heißt, der demokratische Urreflex, dass man das Graben¬schürfende dadurch bestrafen kann, dass man jemandem die Schaufel aus der Hand nimmt, das gibt es in der Form in Europa nicht. Wenn die Kritik aber stimmt – und sie stimmt, dass sich Europa immer weiter von den Menschen und ihren Sorgen entfernt –, dann muss man sich mit diesem zentralen Thema beschäftigen. Und über der Beschäftigung mit diesem zentralen Thema, langsam aber sicher, die Europäer und selbst die Menschen wieder in Richtung Verfassung mit auf den Weg nehmen. Dann stellt sich die Frage, ob es nicht in dieser Verfassung, in diesem Verfassungsvertrag einige Denkansätze gibt, einige Mechanismen gibt, die man auch in Kraft setzen könnte, obwohl wir die Verfassung nicht haben, aber die wir im Sinne der Verfassung in Kraft setzen könnten.

Wo poolt sich das Bürgerinteresse wenn es um europäische Anliegen geht? Es poolt sich, es gruppiert sich, es organisiert sich im nationalen Parlament. Der Verfassungsvertrag hat vorgesehen, dass jede Initiative der Kommission, jeder Richtlinienentwurf der Kommission den nationalen Parlamenten zur Begutachtung vorgelegt werden muss. Und wenn ein Drittel der nationalen Parlamente Einwände erhebt, muss die Kommission ihren Vorschlag überarbeiten. Niemand sollte uns daran hindern können, dass die 25 nationalen Parlamente, die 25 nationalen Regierungen und das Europäische Parlament sich darauf verständigen, als gemeinsamen Beschluss, als Handlungsanleitung für die nächsten Jahre bis hin zur endgültigen Verfassungsgebung genau diese Einlassung dieses Europäischen Verfassungsvertrages antizipatorisch in Kraft zu setzen. Wer hindert uns eigentlich daran?

Wenn alle 25 Parlamente, wenn das Europaparlament, wenn die Kommission und wenn die Europäischen Regierungen der Meinung sind, dass ein Drittel der Parlamente reicht, um eine Initiative abzublocken oder sie zur Revision und zur Novellierung zurückzusenden, dass wir dies jetzt schon tun und über diesem Tun die europäischen Dinge neu lernen, diesen dritten Teil der Verfassung der auf größte Ablehnung gestoßen ist, obwohl dieser dritte Teil nur die bisherigen Politiken zusammenfasst, dadurch besser verständlich zu machen, dass wir, via nationale Parlamentsdebatte zeigen, wie Europa funktioniert, was Europa leisten kann, was Europa bewirten kann. Und dass wir uns dabei ausrichten an einer anderen Bestimmung des Vertrages, die doch in Deutschland jahrelang, weil es sie nicht gab, für größte Furore gesorgt hat. Der neue Vertrag regelt endgültig und erstmalig in juristisch mehr oder weniger einwandfreier Form die Kompetenz zu ordnen in der Europäischen Union. Wir wissen, nachdem wir uns zu 25 auf diesen Vertrag geeinigt hatten, wofür die Europäische Union zuständig und wofür die Nationalstaaten zuständig sind. Es müsste möglich sein, diese Parlamentsklausel, die der Vertrag enthält, sofort in Kraft zu setzen und bei der Ausübung dieser neuen parlamentarischen Befugnisse uns aufs Programmprofil eigentlich die relevanten Vertragsstellen über die Kompetenzzuordnung zu Grunde zu legen, dass wir also diesen Subsidiaritätstest, der durch nationale Parlamente zu bewerkstelligen ist, entlang den Linien der im Vertrag festgelegten Kompetenzzuordnung organisieren würden. Dies würde erhebliche Bewegung in die europäischen Dinge bringen, würde zu einem besseren Verständnis europäischer Abläufe und Entscheidungsfindungen beitragen. Wir könnten so, langsam aber sicher, aber auf gefestigtem Grund uns der end¬gültigen Verfassungsgebung nach 2007 zubewegen.

Wozu dann auch gehört, dass wir das Begonnene richtiger machen als bisher. Ich bleibe bei meiner Eurogruppe, die ich im Vorsitz gestalte. Wenn wir es schaffen würden – und wir können es schaffen, weil wir haben erhebliche Fortschritte in den letzten Jahren eingefahren – in Sachen Koordinierung der Wirtschaftspolitik ernsthafter zu Potte zu gehen, wenn wir es schaffen würden, aus dem Euro auch einen täglich fühlbaren Erfolg für die Menschen zu machen, weil sie merken, dass auch nationale Wirtschaftspolitik ihr Ende erreicht hat, wenn wir uns darauf verständigen könnten, dass nationale Haushaltspolitiken und nationale Wirtschaftspolitiken grenzübergreifend besser aufeinander abgestimmt würden, um europäischen Wachstumszielen und europäischen Beschäftigungszielen besser dienen zu können, dann würden wir es schaffen, über dem Tun, durch den Beweis des Faktischen und durch den Beweis der Tat, den Menschen zu vermitteln, dass diese Europäische Union funktioniert und dass sie besser funktioniert als vorher und dass sie noch besser funktionieren würde, wenn wir all dies, was wir jetzt prophylaktisch im durch Vorziehen einzelner Vertragsbestimmungen in Bewegung setzen, wenn wir dies nach Verfassungsgebung vollumfänglicher tun könnten.

Das Gleiche trifft auf die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu, von der es vor Jahren noch nicht mal Spurenelemente gab, aber von denen es heute sehr einschlägige Tüchtigkeitsbeweise der Europäer gibt. Ich weiß nicht, ob viele Europäer überhaupt wissen, dass wir mit einer europäischen Polizeimission zur Befriedigung von Bosnien-Herzegowina beitragen. Ich stelle mir die Frage, ob die Europäer überhaupt wissen, dass durch europäische Polizeipräsenz in Mazedonien dort das Wiederaufflammen eines interethnischen Bürgerkrieges verhindert wurde. Ich weiß überhaupt nicht, ob die meisten Europäer wissen, dass europäische Zivil- und militärische Polizeikräfte im Kongo stationiert sind. Ich weiß überhaupt nicht, ob die Europäer überhaupt wissen, dass wir demnächst im Sudan vor Ort sein werden, dass wir in Moldawien, Ukraine vor Ort sein werden. Ich weiß überhaupt nicht, ob die Europäer wissen, dass wir ab 2007 uns verpflichtet haben im Rahmen der UNO und auf deren Anforderung hin 20.000 Mann Truppenstärke bereitzustellen, die innerhalb weniger Tage zum Einsatz bereit ist. Also das, was wir als gemeinsame Außensicherheitspolitik beschreiben und mit deren Maturitätszustand ich nicht im Entferntesten zufrieden bin, ist trotzdem im Werden begriffen. Und wenn wir auf diesem Weg weitermachen und unsere internationale Verantwortung dort übernehmen, wo sie gefragt ist und wo sie zwingend notwendig ist, dann können wir den Menschen dadurch, dass wir beweisen, dass wir etwas schaffen, die Liebe zu Europa wieder neu beibringen.

Das Gleiche trifft zu auf den Bereich Innenpolitik und Justiz. Ich habe in den Niederlanden und in Frankreich niemanden gehört, der gesagt hätte, Europa tut zuviel gegen das internationale Verbrechen, tut zuviel gegen den internationalen Terrorismus. Die Menschen haben dort das Gefühl, dass die Einzigen, die die Binnenmarktlogik total verinnerlicht haben, die Gangster und Banditen sind die sich über Grenzen hinwegsetzen, als ob es keine mehr gäbe, weil es gibt nämlich keine mehr. Nur die Polizeikräfte, die nationalen Staatsanwaltschaften stoßen sich immer noch an der Rigidität zwischenstaatlicher Grenzen trotz erfolgreicher Fortschritte auch hier – die Gründung von Europol, Eurojust, Eurolex usw. sind kleine europäische Erfolgsgeschichten. Aber wir könnten mehr tun, grenzüberschreitend und grenzübergreifend, im Kampf gegen das internationale Banditentum, gegen das internationale Verbrechen, gegen den Menschenhandel in Europa. Das ist nämlich ein europäisches Thema, der Menschenhandel in Europa, gegen die Drogenkriminalität. Dort wird es nie Europa genug geben, dort brauchen wir jeden Tag mehr Europa, um die Menschen eigentlich davon zu überzeugen, wozu Europa auch in diesen Bereichen, die die Lebensbedingungen, die Sicherheit der Menschen wesentlich tangieren, fähig ist.

Wenn wir dies täten, einiges aus dieser Verfassung vorziehen und es im Lichte der Verfassung entscheidungsfähig machen. Wenn wir in den Bereichen, wo wir schon mal stark waren und noch stärker werden können, durch den dauerhaften und je permanent wiederholten Beweis der Tat die Menschen von der Richtigkeit gemeinsamen europäischen Tuns zu überzeugen, dann würden wir, wie ich denke, auch ein kontinentales Klima schaffen, wo die Menschen dann bereit wären, ihre Zustimmung zu diesem europäischen Verfassungsvertrag zu geben, den man dann hätte am Werke sehen können – anstatt dass er jetzt wie eine theoretische Größe mit 450 Artikeln den Menschen auf den Kopf gehauen wird und regelrecht vorgesetzt wird.

Es wird nicht möglich sein, vor dem Jahre 2007 diesen europäischen Verfassungsvertrag endgültig in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union im End¬ratifizierungszustand zu sehen. Es muss wohl so sein, dass einige noch ratifizieren müssen, das werden die auch zu tun versuchen. Und dann müssen sich Franzosen und Niederländer die Frage noch einmal stellen. Wenn wir diesen europäischen Verfassungsvertrag wollen, den wir durchaus umbenennen können, da bleibe ich bei meinem Hauptpetitum und wenn wir den Franzosen und den Niederländern nicht das Gefühl geben möchten, sie jetzt zu überfahren, sondern diese Zwischenzeit, diese Denkpause nutzen, um – wie ich schon sagte – die Anwendung vom Vertrag zukünftiger Vertragsbestimmungen vorzuziehen, und in den Zuständigkeitsbereichen der Europäischen Union Nägel mit Köpfen zu machen, dann können wir wahrscheinlich auch Niederländer und Franzosen von der Richtigkeit des gemeinsamen Tuns überzeugen. Umso mehr wir bis dahin, wie ich mir wünsche, einige Defizite in der Europäischen Union ausgemerzt haben, vor allem was die unterentwickelte soziale Dimension der Europäischen Union anbelangt. Diese Vorstellung, die den Menschen vermittelt wird, Europa wäre nur Stabilitätspakt, falsch verstandene Lissabon-Strategie, ein Entwurf für Banker und Unternehmer und hätten mit dem einfachen, arbeitenden Menschen nichts zu tun, diese Vorstellung muss endgültig bekämpft werden, damit die Menschen es wieder lernen diese Europäische Union zu mögen.

Über diese Europäische Union werden wir immer wieder streiten, uns immer wieder in die Haare kriegen, werden wir immer wieder schlimmste Auseinandersetzungen erleben. Ich bin überzeugt, dass der Zug der Geschichte trotzdem in diese Richtung tendiert, dass es zu dieser Europäischen Union keine glaubhafte, sich dauernd bewährende politische Alternative gibt. Es besteht die Gefahr, dass wenn wir die europäischen Dinge nicht in die Hand nehmen, dass sich die Europäische Union, langsam aber sicher, am Anfang unbemerkt und nachher unverrückbar, in eine gehobene Freihandelszone zurückentwickelt. Diese Zurückentwicklung in eine gehobene europäische Freihandelszone wäre ein Desaster für diesen Kontinent. Das Konzept der Freihandelszone ist ein zu simples Konzept für einen eminent komplizierten, weil dramatisch evaluierenden Kontinent. Dies dürfen wir nicht zulassen, weil wir das Recht nicht haben, dass diese Generation und die nächsten Generationen das stückchenweise wieder abbauen, was die Vorgängergeneration in einem großen Kraftakt aufgebaut hat.

Vieles ist gut in Europa, wenn mich auch manches stört. Aber etwas ist gut, nämlich dass das Lebenswerk unserer Vorgänger uns in eine Welt hineingesetzt hat, die eigentlich wesentlich besser ist als alles das, was es an Welt vorher in Europa gab. Winston Churchill, auf dem Höhepunkt seiner moralischen Autorität angekommen, sagte 1948 beim Haager Pan-Europakongress, vor der Weigerung der Sowjets die ost- und mitteleuropäischen Staaten an den Mitteln des Marshall-Plans teilnehmen zu können und der Weigerung dieser Staaten, durch Moskau diktiert nicht am europäischen Einigungsprozess teilzunehmen: wir fangen heute im Westen an, was wir eines Tages im Osten beenden werden. Da sind wir angekommen und das sollten wir nicht aufs Spiel setzen.

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